"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Isis IS

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Der frisch gekürte türkische Präsident will eine Präsidialrepublik einrichten, je nach Polarisierung der jeweiligen Berichterstatter nach russischem und chinesischem oder aber nach amerikanischem und französischem Vorbild. Das ist schön; offenbar hat kein Schwein eine Ahnung davon, was in der Türkei geplant ist.
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09:50 min, 22 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.08.2014 / 09:27

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 12.08.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das scheint mir auch recht schwierig, denn so ein Präsident kann ja nicht einfach die Verfassung ändern, weil er sich zuerst die Vollmacht geben lassen müsste, um die Ver­fassung ändern zu können. Dazu braucht er aber das Parlament, und weil das türkische Parla­ment trotz allem Geflunker von deutschen Weltklasse-Journalisten dem Herrn Erdogan nicht jeden Wunsch von den Lippen ablesen wird, dürfte sich das Superpräsidium, sprich Sultanen- oder Ka­li­fen­tum, durchaus modern gestalten. Ich meine, die Türkinnen und Türken wären ja blöde, wenn sie den Erdogan einfach stilllegen täten; immerhin hat der für die größten Fortschritte in der Türkei in den letzten vierzig Jahren gesorgt, auch wenn ihm in letzter Zeit die Geister der Vergangenheit, namentlich Korruption und die Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten, wieder zu schaffen machten. Insgesamt steht aber die Türkei wie eine Eins oder wie ein Leuchtturm in einer Region, die als krisengeschüttelt zu bezeichnen sicher untertrieben wäre. Neinnein, da ist ohne jeden Zwei­fel der richtige Mann Präsident geworden, auch wenn man seine Ansichten und Vorgehensweisen nicht zu hundert Prozent befürworten muss. Aber was wären denn die Alternativen gewesen? – Es gab und gibt schlicht keine. Die Systemfrage bzw. die revolutio­nären Parteien, welche sie stellen, haben in der Türkei ebenso wenig Aktualität wie überall sonst, von allfälligen konkreten Pro­gram­men gar nicht erst zu sprechen. Und der kurdische Kandidat Demirtas erhielt etwas mehr als 9 Prozent der Stimmen, aber merkt Ihr etwas, Freundinnen und Freunde? Es hat ein kurdischer Kandidat teilgenommen an den Präsidentschaftswahlen. Allein das kann man als Beleg dafür nehmen, dass Erdogan mit seiner Kurdenpolitik einigermaßen richtig lag. Ich gehe nach wie vor davon aus, dass hinter dem Burgfrieden mit den ehemaligen Bergtürken ein Deal mit dem inhaftierten Öcalan steht, und auch das ist ja nur eines, nämlich richtig. Öcalan spielt vielleicht aus dem Kerker heraus eine ähnliche Rolle wie seinerzeit Nelson Mandela in Südafrika. Allerdings stehen die Chancen nicht besonders gut, dass Öcalan dereinst zum Nachfolger von Erdogan bestimmt wird. Dennoch: eine anständige Friedenslösung ist, falls sie Dauer hat, auch Öcalan zuzuschreiben.

In Europa neigt man immer wieder dazu, die Türkei aus der Sicht von Istanbul zu beurteilen. Aber Erbil und Mosul sind im Osten keine 100 Kilometer entfernt von der Grenze. Aleppo liegt 50 Kilometer südlich vom türkischen Kilis. Der Libanon und Israel zählen zur Nachbarschaft, ebenso wie auf dem Landweg der Iran, Armenien und Georgien sowie zu See Russland, die Ukraine sowie die EU-Staaten Bulgarien und Rumänien. Die Türkei hat sozusagen das volle Programm. Selbst­ver­­ständlich hat sie auch die Unterstützung der Nato als zentralen Machtfaktor, was übrigens immer auch einen moderierenden Einfluss hatte und hat auf die Armee und ihre Führung. Dennoch ist es eine Leistung, das große Land in diesen turbulenten Zeiten derart stabil zu halten, und zwar ohne exorbitante Repression.

Ganz ohne Repression wird es nicht gehen, und ich spreche hier nicht in erster Linie von den früheren Objekten der staatlichen Repression, eben von den Kurden oder den revolutionären Bewegungen, sondern heute sind es eher die Islamisten, welche bisher sozusagen einen Bogen gemacht haben um die Türkei, respektive die Türkei lässt mindestens die europäischen Jihad-Touristen mehr oder weniger unbehelligt nach Syrien durchreisen. Vielleicht ist dies ein Bestandteil eines inoffiziellen Stillhaltepaktes zwischen der türkischen Regierung und den sunnitischen Anti-Assad-Truppen. Aber solche Abmachungen sind heikel. In der Gründungsakte des neuen Kalifates steht nichts von der Unverletzlichkeit der türkischen Landesgrenzen, und wenn ich das Konzept richtig verstanden habe, so sind die Jihadisten noch nicht so weit gereift oder in ihren eigenen Begriffen korrumpiert und verrottet, dass sie unislamische Regierungen auf Dauer tolerieren werden. Möglicherweise hält die Angst vor einem massiven Militärschlag die Isis- oder IS-Führung vor einer offensichtlichen Infiltration des türkischen Gebietes ab; vermutlich sind aber auch die Menschen weniger empfänglich für die mittelalterliche Verblendung der Gotteskrieger. Und das wiederum ist eben ein Merkmal eines modernen Staates. Was wiederum die Islamisten nicht davon abhalten wird, sich trotzdem auch die Türkei bei Gelegenheit auf den Speisezettel zu notieren; denn gerade dies ist das Merkmal der mittelalterlichen Verblendung, dass sie sich nämlich gegen die Modernität richtet und innerhalb ihrer ganz zentral gegen die Vernunft, welche eben nicht nur den Atheismus oder die verbreiteten Formen des Deismus erzeugt hat, sondern in erster Linie die Natur­wissenschaften mit all den schönen Erfindungen vom Automobil über die Kalaschnikow bis hin zu youtube, welches unsere spätmittelalterlichen Jungscharen so eifrig nutzen.

Die europäischen Jihad-Touristen dagegen stammen ja nicht aus den spätmittelalterlichen Gesellschaften, laut eigenen islamischen Berechnungen aus dem Jahre 1393, sondern eben aus den modernen Gesellschaften. Es erscheint unmittelbar einleuchtend, dass es sich bei diesen jungen Herren um die gleiche Sorte von Prä- oder Postpubertierenden handelt, welche in Europa lange Zeit die Kriegsbühne bevölkerten, was man insonderheit von den Schweizern gut nachweisen kann, welche in der Folge bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts unter allen Herrschern Söldnerdienste leisteten, französische Könige gegen die Revolution verteidigten oder meinetwegen an der Seite der Engländer versuchten, die amerikanische Unabhängigkeit zu verhindern. Das Psychogramm eines durchschnittlichen Jihad-Touristen lässt sich schnell erstellen: Er überträgt die Probleme seiner eigenen Pubertät auf die Gesellschaft und ergreift mehr oder weniger jede sich bietende Gelegen­heit beim Schopf, sich davon abzugrenzen oder in Opposition dagegen zu gehen, und der islamische Jihad ist zweifellos eine schöne Gelegenheit, der modernen Welt eins auszuwischen. Dass eine Mischung aus antikapitalistischer und herrschaftskritischer Ideologie, zusammen mit allen möglichen Problemsorten aus den jeweiligen Lebensumständen, hier eine gute Grundlage bildet, versteht sich dabei von selber.

Aber in Europa dies wird wieder abflauen, wenn der erste Attraktivitätsschub einmal vorüber ist, während die Kalifen in den Kriegsgebieten durchaus Aussichten auf ein längeres Leben haben. Ihre bisherige Expansionsform kommt erst dann zum Stehen, wenn entweder ihre Finanzquellen versiegen oder aber wenn sie tatsächlich einen definitiven Staat errichten; die Abgrenzung als Staatswesen bedeutet gleichzeitig die Anerkennung der Nachbarstaaten. Da entstehen für die Islamisten noch sehr komplexe Aufgaben, auf deren Lösung ich überhaupt nicht gespannt bin.

Jetzt kommt aber auch noch Deutschland in Zugzwang und soll endlich Waffen liefern oder vielleicht gar mit eigenen Truppen im Windschatten der US-Amerikaner für Ordnung sorgen. Davon möchte ich nun aus verschiedenen Gründen abraten. Was herauskommt, wenn die Amerikaner für Ordnung sorgen, haben wir im Irak nun ausreichend gesehen. Unterdessen bin ich soweit, dass ich sogar aus neutraler Sicht die Luftschläge befürworten muss gegen die offenbar fast nicht aufzuhaltenden Isis-Truppen, welche sich zu alledem unter der Leitung eines ehemaligen Oberkommandierenden von Saddam Hussein befinden sollen, was vielleicht die effektiven militärischen Erfolge zu erklären vermag. Daneben beobachten wir einfach die weitere Entwicklung eines kompletten Misserfolgs, der begonnen hat mit dem Einmarsch unter dem Buschkabarettisten beziehungsweise gemäß den Einflüsterungen seiner Minister und Vizepräsidenten, und vollendet wurde er wohl mit der Einsetzung beziehungsweise Promotion des aktuellen irakischen Minister­präsidenten Al Maliki, dem es einfach zuwider war, eine halbwegs integrative Politik zu führen, welche die breiten sunnitischen Bevölkerungsmassen nicht vor den Kopf gestoßen hätte. Da scheint die Personalabteilung im amerikanischen Außenministerium wirklich nicht im Bild gewesen zu sein. Aber die wollen ja von all dem Zeugs sowieso nichts wissen und beharren mindestens in der Person von Roland Bumsfeld nach wie vor darauf, dass der Einmarsch richtig gewesen sei und dass die unterdessen 50-jährige Doktrin, dass die USA jederzeit zweieinhalb Kriege auf der ganzen Welt führen können müssten, nach wie vor Gültigkeit haben müsse, weshalb der gegenwärtige Präsident, der schwarze Neger Obama, eine Gefahr für die nationale Sicherheit sei, weil der nämlich die Rüstungsausgaben gekürzt hat, was wiederum eine Folge der Finanzkrise beziehungsweise der enormen Staatsverschuldung war, welche unter dem Buschjockel, ach, ihr kennt das ja alles, und ihr nehmt das alles wohl ebenso wenig Ernst wie ich selber, sondern nur mit anhaltender Konsternation zur Kenntnis, ebenso wie die verschiedenen Bemühungen der Republikaner, dem besagten schwarzen Neger und US-Präsidenten Obama entweder ein Amtsenthebungsverfahren oder aber mindestens einen Strafprozess wegen Missachtung des Parlamentes anzuhängen. Etwas anderes fällt den Jungs unterdessen überhaupt nicht mehr ein.

Die Frage ist aber dann doch die, wie diese Form der Irrationalität bei der US-amerikanischen Bevölkerung ankommt. Theoretisch müssten die Republikaner die Wahlen in den nächsten zwanzig Jahren eine nach der anderen verlieren. Aber bisher habe ich noch niemanden gehört, welcher sich in diese Richtung äußert. Stattdessen hat sich offenbar der Politikverdruss in den Vereinigten Staaten derart verbreitet, dass die Strippenzieher schon behaupten können, was immer sie wollen, es kommt eh nicht drauf an. Möglicherweise müsste man unter solchen Umständen die Verhältnisse und Entwicklungen in den einzelnen Bundesstaaten etwas genauer verfolgen. Aber von einer halbwegs konsequenten, sozusagen genormten Hegemonialpolitik im Inneren kann keine Rede mehr sein.