"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Likileaks Wolkenbruch -

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Immer ist alles so grauenhaft komplex, es ist zum Davonlaufen, das Leben, die Landwirtschaft, die luxemburgischen Steuerkonstrukte, die unser Herr Obereuropäer Jean-Claude Juncker in seinen Zeiten als Finanzminister und Regierungschef erstellt hat und die er jetzt, zwei Tage nach der Ver­öffentlichung durch Luxileaks, energisch bekämpfen will, weil sie amoralisch sind. Mir geht es oft auch so, am Morgen habe ich Hunger, aber am Abend Durst. Ich weiß nicht, welche Sorte Humor es braucht, um ein derartiges europäisches Konstrukt zu ertragen.
Audio
09:56 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.11.2014 / 10:08

Dateizugriffe: 596

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.11.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Von der Schweiz hat mans ge­wusst, die wurde von den Europäern absichtlich draußen gehalten, damit man im Zentrum der EU einen EU-rechtsfreien Raum behält für allerlei Krimskrams und lecker Schweinereien, von der Steuer­optimierung bis hin zu den Deals mit den Amis und den Russen und den Chinesen, welche in Europaland manchmal halt nicht so einfach, wo nicht gar unmöglich sind; aber dass auch die Luxemburger derart massiv das Geschäftsmodell der legalen Steuerhinterziehung zulasten anderer Mitgliedstaaten betrieben, das erstaunt mich nachhaltig, und eben ganz besonders prächtig erstrahlt die Figur des Chefarchitekten all dieser Konstrukte, der sich jetzt als Chefankläger ebendieser Konstrukte aufspielt. Da war ja sein Vorgänger Barroso ein wahrer Europaheiliger dagegen.

Was solls. Glaubwürdigkeit ist kein wichtiges Gut, keine elementare Voraussetzung zur Bekleidung von Ämtern in der EU. Stattdessen ist die Vernetzung wichtig, die Kenntnis der Maschinerie, und darin steht die EU nicht alleine da, wenn man sich mal bei den Nachbarn beziehungsweise beim Aufsichtsgremium der freien Welt umsieht, nämlich in den USA, wo die Familie Bush sich anschickt, den dritten Sprössling in Folge ins Rennen um die Präsidentschaft zu schicken, und zwar gegen die Ehefrau eines ehemaligen Präsidenten, also das ist doch etwas widerlich, auch wenn es vielleicht wie gesagt bloß komplex ist. Mit Demokratie hat das auf jeden Fall unter keinem Titel mehr etwas zu tun. Hier bilden sich flexible Dynastien aus, und wenn sich das demokratische Subjekt so etwas gefallen lässt, dann ist es selber Schuld.

Da kommt mir die Flucht in die Welt der literarischen Geschichten manchmal ganz gelegen, zuletzt dank einem kleinen Roman über einen jüdischen Wirtschaftsstudenten in Zürich, genauer darüber, wie er seine Unschuld verliert und von seiner Mutter aus dem Haus geworfen wird.

Selbstverständlich spielt diese Geschichte vor dem Hintergrund einer der komplexesten Situationen der Zeitgeschichte, wobei ich mich typischerweise schon verplappert hab, denn komplex ist sie eigentlich gar nicht, sondern ziemlich eindeutig und eindeutig verkorkst, nämlich die Sache Israel versus die Palästinenser. Es versteht sich, dass die jüdische Gemeinschaft in Zürich ein absolut unver­krampf­tes Verhältnis hat zum israelischen Staat, jede Familie hat ein paar Ableger in Tel Aviv oder in Jerusalem, und der Romanheld Mordechai verbringt denn auch in der Mitte des Romans ein paar Tage bei einem Onkel in Israel, memorable Tage, notabene, in einem Tel Aviv, dessen Per­so­nal sich von jenem zum Beispiel in Rom kaum unterscheidet, und das ist schon mal ein erster Haupt­knüller dieses Buches: Es ist kein Buch aus den Schützengräben, es gibt keinerlei Glaubens­bekennt­nisse oder Diskussionen darüber, wer jetzt Recht hat oder nicht, hier geht es um die Selbst­ver­ständ­lich­keit des täglichen Lebens, und zwar ohne dass dauernd jemand drein schreit vom Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser – Verzeihung, das ist eine andere Geschichte. So prächtig kann Literatur eben auch sein. Und nicht nur Literatur: Es ist ganz ähnlich, wie ich im Alltag häufig in einem Kaffeehaus einen Kaffee trinke, ohne dabei dauernd an das Schweizer Bankgeheimnis zu denken oder an die Konstrukte zur Anlockung von Steuerbetrügern aus aller Herren Länder. Israel ist eben nicht nur eine Schablone, Israel hat auch ein Alltagsgesicht mit chakrischen Beratungen, Bier und Frauen, die zum Beispiel Michal heißen.

Zur Hauptsache aber handelt der Roman vom, offenbar tatsächlich so existierenden Klima in der freiwilligen Abgeschlossenheit der traditionellen jüdischen Familien in Zürich. Es sind also nicht die Ultraorthodoxen, die im Sommer unter ihren chassidischen Pelzkappen schwitzen, aber ortho­dox sind sie schon, die Männer kleiden sich nur in schwarz und weiß, was immerhin auch nicht besonders komplex ist, sie erledigen ihre Einkäufe im Kreis koscherer Geschäfte, für die Brillen gibt es einen Optiker, und sogar die Autos erwirbt der durchschnittliche orthodoxe Jude beim gleichen Händler zu einem guten Preis. Ihr Leben folgt einem von der Natur beziehungsweise von der Religion vorgegebenen Rhythmus, auf dessen strikte Einhaltung in erster Linie die Frau Mutter sorgt in einem Regiment, gegenüber dem der Herr Vater keinen Stich hat. Und auch der Herr Sohn natürlich nicht bei der Weiberwahl, was dem Helden der Geschichte, Herrn Mordechai Wolken­bruch, eben jene Probleme verursacht, die den Roman begründen und vorantragen. Es ist eine für unsere ungeschulten Ohren außerordentlich ungewöhnliche Welt, ein dichter Knäuel von Ver­wandt­schaften und Bekanntschaften, als externer Berater fungiert dabei der Rabbi, und nebenher wird immer wieder deutlich gemacht, wie selbstverständlich hier das Wort, das Argument in seinem Recht steht, knapp hinter den Beschlüssen der Mutter.

Unser Herr Wirtschaftsstudent trägt diese gesamte Welt mit sich herum, bis sie gründlich kollidiert mit derjenigen Welt, die unsereins als die normale empfindet, und zwar in der Form einer schönen nichtjüdischen Mitstudentin. Wie hier nun die Liebe aufgeht, die Regungen und Entwicklungen des Gefühls, das ist natürlich eine einmalige Pracht, die sonst ein zeitgenössischer Autor oder eine zeit­ge­nös­sische Autorin heutzutage keinem Romanhelden mehr auf den Leib zu schreiben sich trauen würde, aber hier wirkt all das durchaus plausibel, der Mordechai beziehungsweise Motti in seiner ganzen unschuldigen Naivität. Der Weg zum Verlust der Unschuld, zum Gewinn des eigenen Wegs und dann halt auch zur Verstoßung aus dem Mutterhaus wird derart prächtig und logisch und mit einer halbwegs selbstironischen Distanz geschildert, dass man sich hier absolut glücklich in eine voll­kom­me­ne Identifikation mit der Hauptfigur begibt, wie man sie sonst schon längstens nicht mehr möglich hielt – was müssen doch die Subjekte in der modernen Literatur nicht alles sein, zu Beginn schon einmal gebrochen, als Charakter, und dann noch drei- und vier Mal gebrochen in der Darstellung, mit Ausnahme natürlich von Kriminalromanen und Schundliteratur; aber hier taucht man einfach wieder in das pure Glück der Kindheit ein, als man eben noch mit den Figuren mit­lei­den und später dann mitlieben konnte, es ist einfach nur prächtig, zumal es eben auch noch intel­ligent ist.

Und dann die Sprache. Der Autor schreibt in einer Art von gebrochenem Jiddisch, nehme ich an, wobei er sich noch den Scherz erlaubt, eine Diskussion darüber anzutönen, ob nun das litauische oder das polnische Jiddisch das echtere und ursprünglichere Jiddisch sei. Abgesehen von einigen unverständlichen Begriffen wie Punem für Gesicht oder Tuches für Hintern, was übrigens Leit­be­grif­fe sind in dieser Erzählung, gibt es vor allem Schreibweisen, die ein abgebrühter Konsument moderner Literatur für Manierismen hält, zum Beispiel, wenn er rechz mit einem Zett schreibt anstatt mit einem Te-Ess. Rechz. Oder dann schreibt er viele jiddische Hauptworte einfach klein. Oder er spricht in jenen Begriffen, die man aus anderen, früheren Schriftstücken kennt, er schildert zum Beispiel eine Freudigkeit anstelle von Freude, wobei er die Freudigkeit selbstverständlich mit a-jott schreibt statt e-i. So entsteht ein ganz seltsames, wiederum fast kindliches Schrift- und Sprachbild, ein Sprachraum, der an frühere Zeiten anklingt und die erwähnte abgekapselte Welt der orthodoxen jüdischen Gemeinde auch auf dieser Ebene prächtig illustriert.

Irgendwie haben wir alle eine Ahnung von dieser Welt, aber in der Regel nur in der Ver­gan­gen­heits­form. Wie das nun plötzlich im Hier und Jetzt auflebt und erst noch mit jenem Hier und Jetzt zu kämpfen beginnt, das unsere Normalität darstellt, das ist schon überaus wunderbar.

Aber das Herz des Ganzen ist und bleibt der Weg von Mordechai zu seiner Angebeteten, auf wel­chem er sich übrigens nach anfänglichen Schwierigkeiten, was heißt da Schwierigkeiten, nach anfäng­lichem Verzweifeln absolut prima hält und schlägt, wobei «schlägt» hier nicht das richtige Wort ist, denn Schläge gibt es eigentlich nur von einem, nun ja, ich sage es nicht gerne, aber es ist dann halt doch ein Deutscher, welcher dem Mossi ein paar Faustschläge versetzt, so wie alles Deutsche in dieser Jiddischkajt oder wie auch immer das heißen mag, keine besonders gute Anfangs­position hat. Aber zur Sache tut das nicht viel, man könnte sagen, der Autor hätte vielleicht aus psychologischen Gründen diesen Deutschen eher als Schweizer ausgestalten können, aber es ist nun mal so, wie es ist. Daneben taucht und taut Mossi gegen Schluss immer radikaler in diese außer­orthodoxe Welt ein, bestärkt von ein paar wohlmeinenden älteren Figuren aus der jüdischen Gemeinschaft in Zürich und in Israel, welche ihn geradezu dazu auffordern, seinen eigenen Weg zu machen oder zu gehen. Auf den letzten Seiten beginnt der Gin zu fließen, ein erster Joint findet seinen Weg in Mottis Lungen, und vor lauter Hunger verbeißt er sich in einen echten Kebap, also koscher ist da am Schluss nicht mehr viel, bis natürlich auf das Wesen unseres Romanhelden, aber dieses ist vor allem insofern koscher, als es halt religionsübergreifend jung, neugierig, liebes­be­dürf­tig und trotz allem intelligent und tolerant ist. Solche Freunde möchte ich eigentlich unbedingt auch haben. Oder die anderen wie der Enzo, welcher gegen Schluss den positiven Gegenpol in der nicht­jü­dischen Bevölkerung Zürichs gibt, ein lebenslustiger und drogenfester Sohn oder Enkel italie­nischer Immigranten, den Mossi an seiner ersten WG-Party in der Wohnung der Angebeteten kennen lernt –

Ach, lest dieses Buch doch selber. Es heißt «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse», der Autor ist Thomas Meyer, und ihr findet alles weitere auf dem Internet oder bei Amazon oder beim Buchhändler eures Vertrauens.