"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Viele Fragen -

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Sodeli, jetzt kann es weiter gehen, die Regierung Tsipras wurde von der griechischen Bevölkerung legitimiert, ihr Drama um ein paar Takte oder Akte zu verlängern, und das Händeringen bei den europäischen Institutionen geht weiter. Als erstes könnten sich die Onkels mal ihre Onkel-Attitüde abschminken, die ihnen weder zu Gesicht noch überhaupt ansteht.
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09:35 min, 22 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 07.07.2015 / 14:48

Dateizugriffe: 601

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 07.07.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Dijsselbloem, Schäuble und all die anderen sind nämlich nicht im Besitz der endgültigen Wahrheit oder der definitiven Lösungsansätze für die griechische Krise. Und ich auch nicht, damit dies gleich gesagt ist. Am Wochenende habe ich einen Kommentar eines liberalen slowakischen Ökonomen gelesen, der wieder das Währungsproblem in den Vordergrund gestellt hat, also die Möglichkeit, welche Länder mit Strukturproblemen früher hatten, ihre Wirtschaft durch eine abenteuerliche Währungspolitik, sprich durch permanente Abwertung einigermaßen konkurrenzfähig zu halten; in der Eurozone gibt es diese Möglichkeit seit fünfzehn Jahren nicht mehr, die Einheitswährung schafft ihren eigenen Modernisierungsdruck für die Volkswirtschaften der angeschlossenen Länder, und wer dem nicht standhält, der geht dann eben glorios unter. Dies ist natürlich eine innerökonomische Aussage und vernachlässigt ziemlich viele weitere Aspekte, die in Griechenland ebenfalls eine Rolle spielten, in erster Linie die von Grund auf zerrüttete Staatskonstruktion und in zweiter Linie und im Zusammenhang damit das System der internationalen Korruption, von dem sich die deutsche Exportindustrie eine dicke Schnitte angeeignet hat, neben den Bankenabenteuern, welche in der Zwischenzeit vollständig auf die öffentliche Hand umgeschuldet worden sind. Immerhin spricht die innerökonomische Analyse, der ich auf Anhieb nicht viel anzufügen habe, sehr deutlich für die Einführung der roten Drachme anstelle des Euros in Griechenland, und ich wiederhole auch an dieser Stelle meine Hoffnung, dass die Regierung hier bereits vorgesorgt hat mit der Ausgabe von Kreditpapieren, die im Moment noch auf den Euro referenziert sind und aber bald mal zur klassischen Nationalwährung werden; hier könnten dann auch all die schönen Versuche mit Alternativgeld im großen Umfang mal angesetzt werden. Für die Griechen wäre das gar nicht dumm, einfach immer wieder unter einer Voraussetzung: dass sie parallel dazu endlich auch mal vernünftige, moderne Gesellschafts- und mindestens Staatsstrukturen einrichten.

Und ein Grundeinkommen, versteht sich.

Viele Fragen, große Fragen, wie immer, es gibt sie auch auf anderen Ebenen, zum Beispiel, wie lange es noch dauert, bis die ersten Shit-on-Kliniken eingerichtet werden. Das Shit-on ist der kleine Bruder des Burn-out und wird oft als Vorstufe zu diesem betrachtet, wobei es hier kontroverse Meinungen gibt; in den USA zum Beispiel behaupten zahlreiche Wissenschaftler, dass zwischen den beiden überhaupt kein Zusammen­hang bestehe, dass ein Burn-out vielmehr gerade dort entstehe, wo der Shit-on-Kanal versiegt sei oder gar nicht existiere. Diese Diskussion überlassen wir vorderhand den Fachleuten und warten darauf, dass das Shit-on-Syndrom als kassenpflichtiges Ereignis klassifiziert wird und dass sich die Pharma­industrie daran macht, verschiedene taugliche Medikamente dagegen zu entwickeln.

Hier schließt sich dann vielleicht so etwas wie ein Lebenskreis, indem eine gute Hälfte des psy­chi­schen Leidens darauf zurückzuführen ist, dass die Ambitionen nicht mit den Perspektiven überein stimmen. Das reicht als Erklärung zwar nicht besonders weit, denn diese Diskrepanz zieht sich durch die gesamte Geschichte, sie begründet auch positive Erscheinungen wie zum Beispiel den Erfinder- und Entdeckergeist. Breite Bevölkerungsteile erfasst sie aber erst in der jüngeren Zivilisationsgeschichte, indem steigende Anteile der Gesamtbevölkerung überhaupt Ambitionen entwickeln, nicht zuletzt dank den Anreizen und dem Druck einer immer ominöseren Population von Medien und ihren Formaten. Früher, ja früher war in der Beziehung alles besser, da waren die Menschen nämlich froh, wenn sie über­haupt etwas zu beißen hatten, da brauchte es noch keine Berufsträume. Später hatte dann die Ar­bei­ter­klasse so etwas wie ein Selbstbewusstsein entwickelt und war stolz auf das eigene Dasein, auf das eigene Hier und Jetzt, auf einen ewigen Status als Proletarier mit den damit verbundenen Eigenschaften und Qualifikationen. Aber heute muss ja jeder unbedingt der Beste sein in irgendeinem Fach, und sei es auch nur Operettenpfeifen beim Rutschen auf dem Treppengeländer. Früher wurden Postbeamte noch körperlich gezüchtigt, wenn sie nicht sämtliche Postleitzahlen im Land auswendig kannten; heute hat man dafür schon gar keine Verwendung mehr, das erledigt alles der Computer, und deshalb muss sich der moderne Postbeamte seine Talente anderweitig zusammen basteln. Und irgendwann kommt so ein moderner Postbeamter an den Punkt, da er merkt, dass ein paar Takte oder durchaus auch das ganze Musical Space Dream nicht ausreichen, um den Rest seiner Biografie mit ausreichend Substanz anzufüllen, um nur schon am Stammtisch bestehen zu können. Und dann geht es eben los mit den verschiedenen Krankheiten.

Grundsätzlich halte ich es für eine eigenartige Innovation, dass die Gesellschaft Lebensentwürfe ihrer Bestandteile, also der Individuen überhaupt so weit gedeihen lässt, dass sie scheitern beziehungsweise ihre Trägerinnen in irgendwelche Löcher stürzen lassen. Aber auch das ist wohl eine Etappe der Zivilisationsentwicklung, einmal abgesehen davon, dass die Gesellschaft als solche wohl kaum einen dauernden eigenen Bewusstseinsapparat mit dem entsprechenden Gestaltungs- und Innovationswillen ausbildet; so was ereignet sich halt einfach von Zeit zu Zeit. Und in aller Regel bildet die Gesellschaft nach dem entsprechenden Problem auch Ansätze zu seiner Lösung aus. Dazu zähle ich aber, das kann man nicht laut genug sagen, ausdrücklich weder die Burn-out- noch die Shit-on-Kliniken. Wenn die Gesellschaft schon dergleichen tut, als wären tatsächlich irgendwelche Ambitionen für alle Individuen möglich, dann muss sie sich überlegen, wie sie diese Ambitionen auch tatsächlich befriedigen kann. Ansonsten muss sie sich daran machen, die Ambitionen der Individuen so zu gestalten, dass sie halt nur noch Alltagsformat haben. Zum Beispiel Gitarrespielen.

Am Wochenende kam ich ins Gespräch mit einem Gitarristen, der mir erzählte, dass er sein Instrument von einem ursprünglich masurischen Gitarrenbauer erworben hätte, den er in schon fortgeschrittenem Alter in seinem Atelier irgendwo bei Nürnberg besuchte und dem er bei der Auswahl des Holzes für den Resonanzkörper zugeschaut habe. Bosnisches Ahorn sei grundsätzlich das beste Material für Gitarren, meinte er, aber davon gebe es im Moment praktisch keines mehr auf dem Markt, weil die bosnischen Serben die entsprechenden Wälder vollkommen vermint hätten. Ich unterdrückte meinen Einwand, wonach man Minenfelder eigentlich eher auf offenem Gelände anlegt, denn ich wollte nicht etwa als Serbenfreund oder gar als Anhänger des Psychopathentrios Milosevic, Karadzic und Mladic dastehen; abgesehen davon ist es ja gerade Psychopathen durchaus zuzutrauen, dass sie auch Wälder verminen. Daneben hatte ich den Eindruck, dass diese Schilderung, vom masurischen Ursprung des Gitarrenbaumeisters bis eben hin zum bosnischen Ahorn, auch ziemlich viel mit Mythen zu tun hat und mit einem leichten Hang zum Übersinnlichen, von dem die Kultur nun mal lebt; insbesondere die Zelebrierung der Holzauswahl, bei welcher man mit einem, was weiß ich, Silberhammer an ein Stück Holz schlägt und dann hört, ob es bereits reif ist für die Verarbeitung, nachdem es siebenundsiebzig Jahre am Stück gelagert worden ist, das ist doch Mythologie in einer sehr reinen Form. Und, aufgepasst: Das ist auch gut so, denn wie sollte man in einem Alltag leben, in dem alles plan ist und einem gar nichts mehr überhöht entgegentritt? Das wäre mir ein fades Leben, das stark an die ausschließliche Ausrichtung am Broterwerb erinnert, und davon wollen selbstverständlich insbesondere Menschen mit gewissen kulturellen Ansprüchen nichts wissen, und hierzu sind Gitarristinnen ganz selbstverständlich zu rechnen.

Als dann aber der Gitarrist auch noch erwähnte, dass gutes Gitarrenholz ausschließlich bei abnehmendem Mond geschlagen werden müsse, da ging er mir dann doch zu weit. Auf meine Nachfrage hin bemühte er sich um eine halbrationale Begründung: Es sei doch allgemein bekannt, dass sich in diesen Tagen die Kapillarflüssigkeit aus ihren Baumkapillaren zurückziehe. Meine ansonsten geschätzte Partnerin sekundierte eifrig: «Jaja, genau wie bei Ebbe und Flut!», und der Gitarrist nickte. Ich nicht. «Könnte es nicht sein, dass es für den Flüssigkeitsstand in den Bäumen und ihren Kapillaren eine größere Rolle spielt, ob es gerade regnet oder nicht?», legte ich rechthaberisch auf den Tisch, und auf die Kürze war niemand in der Lage, dagegen zu halten. Denn soviel steht fest: All das Getue um Mondholz ist Firlefanz aus längst untergegangenen Zeiten, in denen man noch an Geister und Dämonen glaubte und in welchen die Natur begrifflich noch nicht in die geschöpfte Schöpfung des Schöpfers überführt worden war.

Was solls. Wie gesagt, braucht die Kultur und in ihr die Musik ihre Mythologie, und ich will sie ja auch nur dort dafür kritisieren, wo sie gerade meine elementaren rationalen Ansprüche verletzt, welche im übrigen meiner Ansicht nach längst menschenrechtsähnlichen Status haben sollten, aber das ist jetzt wieder ein anderes Kapitel. Und mit dem Gitarristen und seiner Frau und überhaupt haben wir uns dann noch reichlich weiter unterhalten und auch gern und gut gelacht.

Übrigens an dieser Stelle noch ein Hinweis auf eine Fernseh-Koproduktion verschiedener deutschsprachiger Sender, die aber Gottseidank deutlich österreichisch geprägt ist, nämlich auf die «Vorstadtweiber»: Diese Serie hält mit den, ebenfalls wunderbaren skandinavischen Politthrillern locker mit, bringt aber eine weniger schicksalsinduzierte, als vielmehr nur bösartige und scharfzüngige Handlungs- und Dialogführung, was über weite Strecken ein pures Vergnügen ist. Aber wahrscheinlich habt Ihr das ja selber schon herausgefunden. Ich möchte das einfach aus neutraler Sicht nochmals bestätigt haben.