Am Nullpunkt - Was war vor der Flucht?

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Anmod: Die Situation vor dem Berliner Lageso und den Notunterkünften ist nach wie vor katastrophal. Doch in der Berichterstattung der großen Medien ist meist kein Platz für die persönlichen Geschichten der Geflüchteten. Das Berliner Online-Projekt amnullpunkt.de gibt Menschen eine Stimme, die alles aufgeben mussten und nun in umfunktionierten Sporthallen in Berlin Prenzlauer Berg untergekommen sind. Jenz Steiner von Piradio in Berlin hat mit den Macherinnen und Machern der Seite gesprochen.

Mehr Infos unter http://amnullpunkt.de
Audio
05:12 min, 12 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.04.2022 / 10:42

Dateizugriffe: 645

Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Kultur, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Jenz Steiner, Rebecca Bruhn
Radio: FRBB, Berlin und Brandenburg im www
Produktionsdatum: 01.02.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wer sind die Menschen, die - als Flüchtlinge abgestempelt - in den Warteschlangen vorm Berliner Lageso stehen und auf Feldbetten in Turnhallen übernachten? Ihre Geschichten sind für große Medien meist irrelevant und haben kaum Nachrichtenwert. Die Berliner Website am Nullpunkt.de rückt genau diese Geschichten in den Vordergrund.

Conrad Menzel, Norman Briewig und Lina Ernst haben die Seite seit August letzten Jahres aufgebaut und im Januar über soziale Netzwerke publik gemacht.
Conrad Menzel hat Kontakte zu Notunterkünften in Berlin Prenzlauer Berg geknüpft und mit Menschen gesprochen, die dort vorerst ein Dach über dem Kopf gefunden haben.
Was ihn dazu bewegt hat, beschreibt er so.

Conrad:
Ich will einfach, dass die Leute die Gelegenheit bekommen, ihre Geschichte zu erzählen. Die Adressaten sind für mich in erster Linie Leute, die sich das, ähnlich wie wir, bevor wir damit angefangen haben, nicht vorstellen können. Man lernt auch ganz viel über diese ganzen Fluchtbewegungen und dass Flucht nicht heißt, in Syrien loszugehen und einen Monat später in Deutschland in einer Turnhalle anzukommen. Flucht heißt auch, sich schon jahrelang im Land selber hin und her zu bewegen und Gefahren abzuwehren.

Die eigene Biografie verschwindet, sobald man als Flüchtling abgestempelt ist.

Conrad: Die Idee ist entstanden, weil mir irgendwann aufgefallen ist, dass ich das Gefühl habe, dass hinter dem Wort Füchtling ganz viel verschwindet, nämlich Geschichten von Menschen, Biografien, also das, was sie hier erlebt haben. Die kommen hier an und sind erst mal nur noch als Flüchtlinge tituliert und ein Stück weit auch gelabelt. Und da entstand die Idee, dass man auch einfach mal das Augenmerk darauf lenkt, was diese Menschen erlebt haben, bevor sie fliehen mussten aus ihrem Land.

Was die Menschen, die bis jetzt auf amnullpunkt.de portraitiert wurden, mit den Menschen hier verbindet, umreißt Norman Briewig.

Norman:
Das sind Menschen wie wir. Die haben dieselben Ideale und Vorstellungen, was Lebensziele betrifft. Sie sichen auch das Glück, Liebe, Zufriedenheit und Sicherheit.

Welchen Effekt das hat, beschreibt Conrad Menzel so.

Conrad: Man kann das natürlich auch wunderbar verdrängen, indem man eine nicht homogene Masse Mensch unter dem Namen Flüchtling vereint. Dann ist es ganz weit weg von einem und hat mit einem selbst nichts zu tun. Wenn die Leute aber einen Namen kriegen und ein Gesicht und eine Geschichte, kommt man da aber nicht raus, sich damit zu beschäftigen.

Was Conrad Menzel besonders stört, ist das schnelle Aburteilen von Menschen. Mit dem Projekt AmNullpunkt.de möchte er dem entgegentreten.
Mich nervt einfach dieses weit verbreitete Labeln von Menschen und urteilen. Vielleicht kriegt man es auch hin, mit einer Geschichte einen Link zu kreieren, den man in sozialen Medien unter einen blöden Kommentar setzen kann, damit die Leute sich mal damit beschäftigen, was die Geschichte dieser Menschen ist.

Überrascht war Conrad Menzel von der großen Offenheit und Gesprächsbereitschaft der Menschen in den Notunterkünften.

Conrad:
Die haben einen ganz großen Drang, sich auch vorzustellen und zu sagen: Ey, wir sind hier, um einfach ein kleines Bisschen Glück zu finden und nicht jeden Tag gucken zu müssen, um sich vor der nächsten Rakete verstecken.

Er traf bisher auf Menschen, die einerseits die Strapazen ihrer Flucht schildern, anderseits aber auch von ihrem alten Leben berichten wollten.
Allerdings stellt sich immer mehr heraus, dass die Leute gerne erzählen, was sie vorher gemacht haben und es auch als sinnvoll empfinden, ihre Geschichte wiederzuerlangen, auf der anderen Seite auch ein großes Bedürfnis haben, von dieser Flucht zu erzählen.


Die Illustratorin Lina Ernst zeichnet unaufdringliche Schwarzweißbilder zu den Texten, die auf amnullpunkt.de veröffentlicht werden. Dazu braucht sie reichlich Fingerspitzengefühl.

Lina:
Ich finde es schwierig, so eine reißerische Zeichnung von dramatischen Situationen da reinzusetzen. Das behutsam zu machen ist schwierig. Ein Gefühl für die Geschichte zu haben und trotzdem muss man ja etwas zeigen. Insofern gibt es schon auch mal ein ein Boot, wo ganz viele Menschen drauf gedrängt sind. Das kommt schon auch mal vor.

Auf externe Förderung ist das Do-it-yourself-Projekt bislang nicht angewiesen.

Norman:
Bis jetzt sind die Ausgaben dafür, die wirklich auf dem Blatt Papier stehen, relativ überschaubar. Das ist ein bisschen Webspace und Zeit, die man selber investiert. Deswegen gibt es bislang keine Finanzierung dafür.

Bislang erhielt das dreiköpfige am Nullpunkt-Team nur positive Rückmeldungen. Das bestärkt sie darin, weiterhin Geschichten von Menschen auf der Flucht zu sammeln, zu bebildern und allen zugänglich zu machen.

Norman:
Solange Stories kommen und wir Menschen treffen, die erzählen möchten und wir das auch zeitlich das irgendwie vereinbart bekommen, geht es weiter.

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04.02.2016 / 07:44 JS, FR BB - Freie Radios Berlin Brandenburg
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