"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - FigurantInnen

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Wenn ich vor einer Woche von Figuranten gesprochen habe, also von Menschen und Bewegungen, welche Menschen und Bewegungen aus früheren Epochen und sozialen und ökonomischen Konflikten aufgreifen beziehungsweise sich assimilieren, dann ist dies natürlich nicht die welt­historische Neuigkeit, als welche die Aussage beziehungsweise die ihr zugrunde liegende Erschei­nung zunächst anmuten mag.
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12:06 min, 9669 kB, mp3
mp3, 108 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.08.2017 / 11:54

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Caspar
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 08.08.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Tatsächlich sind Dinge wie zum Beispiel das Klassenbewusstsein der internationalen Industriearbeiterschaft, welches mehr als hundert Jahre lang eine sehr materielle Substanz entwickelte, nicht gedeckt von der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität, auf welche es sich bezieht. Die verschiedenen Facetten des Liberalismus sind in der Praxis längst nicht mehr alle belastbar, insbesondere die ökonomischen Seiten davon dürfen allesamt als unter­ge­gan­gen betrachtet werden, soweit es sich nicht um ein paar Leitsätze der Unte­r­nehmensführung , der Preisgestaltung und der Good Governance handelt. Beim Kommunismus wissen wir auch nicht erst seit dem Kom­mu­nis­tens­chlächter Josef Dschugaschwili Stalin, dass es über ein paar allgemeine Grundsätze hinaus nicht nur keinen Konsens, sondern erbitterte und grundsätzliche Ausein­an­der­set­zun­gen zwischen ver­schie­denen Auffassungen gibt, und die sozialistische Internationale, die früher Treffpunkt und Sammelbecken der sozial­demo­kra­tischen Bewegung war, ist unterdessen zum Refu­gium korrupter Politikerinnen und Politiker aus der südlichen Hemisphäre geworden. Obwohl die Grundlagen für all diese Bewegungen nicht mehr existieren, werden die ideologischen Schatten­kämpfe weiter geführt, und zwar in einer Vehemenz, dass sie an gewissen Orten tatsächlich wieder eine echte Existenz gewinnen und tatsächlich aus dem Hades zurückkehren. Dies gilt in be­schränk­tem Maß auch für die AntiimperialistInnen, deren Wall­fahrten zu den bedeutungslosen Hochämtern der internationalen Politik immer wieder für gute Laune sorgen; eine besondere Materialität erlan­gen aber zweifellos die nationalistischen und faschistischen Figurantinnen, weil sie sich an eine Krüppelerscheinung klammern, welche der Weltgeist beziehungsweise jener Teil davon, in dem ich mich aufhalte, leider zu Unrecht als tot oder mindestens absterbend angesehen hat, nämlich die Nation.

Dieser Hund ist nicht totzukriegen, aus verschiedenen Gründen, in erster Linie wohl deshalb, weil die Menschen gegenwärtig keine anderen Einrichtungen zur Verfügung haben, an welchen sie sich orientieren, vielmehr: um welche herum sie ihre Identität aufbauen können. Es geht dabei nicht um die volle Identität; die Kernbereiche davon entsteht im unmittelbaren Umfeld, dafür braucht es keine äußeren Instanzen, aber für die Orientierung im Regenwald des gesellschaftlichen Lebens sind dann doch Hilfsstrukturen nötig, welche Zugehörigkeit vermitteln und Wertungen oder eben Orientierung erlauben. Über lange Zeiten hinweg bot das Klassenbewusstsein, und zwar durchaus das internationale, eine solche Möglich­keit, nicht nur und nicht einmal in erster Linie für Revo­lu­tio­näre und Rebellen, sondern vor allem für schöne Mehrheiten an gestandenen und konservativen Fachkräften in Industrie und Handwerk. Nun hat der Neoliberalismus diesem Klassenbewusstsein den Garaus gemacht. Ein Großteil der Identität stiftenden Qualifikationen des Menschen vermittels seiner Arbeit sind verglüht, ausgelagert, von Maschinen und Programmen übernommen, wenn auch nach wie vor Bereiche existieren, wo man stolz darauf sein kann, gute Arbeit zu verrichten und dafür einen anständigen Lohn zu erhalten, was uns noch lange erhalten bleiben möge, Amen. Aber dieses Selbstbewusstsein bildet nicht mehr Teil einer internationalen Bewegung. sondern im Gegen­teil des Verdienstes einer Nation, welche dank ihren Institutionen und der Stärke ihrer Export­wirt­schaft das Gedeihen der Facharbeiterschaft erst ermöglicht. Etwas Klügeres fällt uns hierzu nicht ein. Das hat auch damit zu tun, dass die Einsicht ja nicht vollständig falsch ist: gute Schulen, funk­tio­nierende Infrastrukturen und die angemessenen Institutionen sind zentral für die moderne Gesellschaft, und wie sollte man die anders organisieren als im Rahmen der Nation? – Und genau das wären die Fragen, über die wir diskutieren sollten, zum Beispiel im Rahmen einer Europa-Diskussion, aber wir tun genau das Gegenteil, und zwar gründlich: Gerade die Bildung ist in zentralen Bereichen nicht mal Sache der Nation, sondern untergeordneter Verwaltungseinheiten, bei Euch der Länder, welche sich im Wettbewerb der unterschiedlichen Schulsysteme überbieten.

Und so pflücken wir unsere Identität halt von jenen Bäumen, an welchen sie wächst, eben zum Beispiel vom Nationalismus oder von irgendwelchen Identität stiftenden Vergangenheiten, die man heute nicht mehr direkt als Rasse bezeichnen würde. Jedenfalls kann sich der Mensch offenbar nicht damit begnügen einfach Mensch zu sein, er muss auch noch eine nationale oder gar leitkulturelle, eventuell abendländische und christliche und wenns hoch kommt jüdisch-christliche Tradition auf den Leib schneidern, wobei mir das Jüdisch-Christliche immer besonders gut gefallen hat ange­sichts der tausendjährigen Tradition, die Jüdinnen und Juden im Namen Gottes auszurotten. Im Rahmen von Identität und Tradition kann das moderne Individuum sich praktisch beliebig kon-figurieren.

Vielleicht ist dies tatsächlich typbildend für unsere Zeit, nachdem wir uns mit den bildgebenden Verfahren von Kino und Fernsehen schon seit Langem in die virtuelle Welt aufgemacht haben, in welcher wir uns mit Wonder Woman ebenso gut identifizieren können wie mit Dracula oder einem Kettensägen-Monster. Je weniger Zeit wir dafür aufwenden müssen, unser materielles Leben zu sichern, desto mehr Zeit steht uns für verschiedene Figuranten-Aktivitäten zur Verfügung, und am Schluss kann man sogar Geld verdienen damit, bevor sich die Existenz ganz in den virtuellen Bereich verlagert. Dass dies letztlich geschieht, halte ich allerdings für ein Gerücht, ganz im Gegensatz zu den entsprechenden Tendenzen, die überall ersichtlich sind.

Auf jeden Fall erstaunt mich das Figuranten-Thema nicht wenig, und zwar vor allem im politischen Zusammenhang. Dass die Kinder und Enkelinnen der Antiimperialistinnen in Hamburg und anders­wo ihre Feuerwerkskörper zünden anlässlich von Hampelmänner-Veranstaltungen wie dem G-20-Gipfel, damit kann ich mich ganz gut abfinden, aber dass nach dem Schauspiel von Demokratie, welches in den Ländern des entwickelten Nordens anstelle einer echten Demokratie zelebriert wird, jetzt auch noch die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht etwa ein vermutetes souveränes Subjekt der Geschichte sind oder werden wollen, sondern sich in Zukunft ihre Subjektivität nur noch in der Form von Identität an den Körper heften, wenn sie aus dem Solarium und aus dem Bodybuilding kommen, das gibt mir so stark zu denken, dass ich diese Vermutung lieber bei jenen Arbeits­hypo­thesen ablege, mit denen ich lieber nicht arbeite. Schließlich muss es doch möglich sein, selbst unter dem Deckmantel der Virtualität die einzige Kraft am Leben zu erhalten beziehungsweise zu för­dern, welche ihrerseits die Menschheit am Leben erhält, nämlich die Vernunft. Aufklärung und damit auch eine breite Diskussion über vermeintliche Identitäten tut not, und immer wieder steht der Begriff des Individuums, konkreter: des Subjekts, des handelnden Ichs im Zentrum. Ich ver­weise in diesem Zusammenhang auf all die anonymen Meldungen, welche den Müllhaufen der Social Media bevölkern beziehungsweise eben die Social Media zu dem Müllhaufen machen, zu dem sie geworden sind. Die Anonymität enthebt nicht nur die AutorInnen jeglicher Beweisführung, sondern sie hebt grundsätzlich die Wortmeldung als solche auf. Wer aber anonyme Kommentare verfasst und absendet, der hat sich damit selber vernichtet. Wenn dies zwar nicht auf Anhieb für eine anonyme Masse oder eine Masse von Anonymen gilt, sondern nur für eine oder einen ein­zel­nen Anonymus, so wollen wir doch weiterhin darauf beharren, dass die Negation des Ichs als handelndes Subjekt auch in Zukunft kategorisch verneint wird.

Es gibt ja auch Figurantinnen und Figuranten, welche sich nicht in der Anonymität verstecken, be­zie­hungsweise es braucht notwendig ein paar Figuren wie den Björn Höcke, an dem sich die ent­kern­ten anonymen Subjekte orientieren können. Aber deren Auftritten haftet grundlegend der Man­gel an, dass man mit ihrer Person auch ihre Argumente behaften kann. Ein anonym daher gepusteter deutschnationalistischer oder antisemitischer Ausspruch lässt sich nicht widerlegen, aber dem Höc­ke kann man seine Aussagen schwarz auf weiß oder als Audiofile vorlegen, da sieht man jeweils en gros und en détail, wie er ins Zappeln kommt. Vor allem aber gibt es eben nicht nur neo­fa­schis­ti­sche Widergängerinnen und Widergänger. Das Figurantentum wird zusehends zu einem Verhaltens­mus­ter für die ganze Gesellschaft, und zwar aus dem einfachen Grund, weil uns in der Zwischenzeit nichts mehr anderes einfällt. Und da offenbar die Menschen nach wie vor auch ein geistiges Skelett benötigen, um nicht haltlos zusammenzuklappern und davonzufließen, bedient man sich halt bei den Themen, die früher mal so in Mode waren. Das ist die Hauptaufgabe der Jugendabteilungen der herkömmlichen Parteien, aber im Grunde genommen geht es weit darüber hinaus.

Am meisten ärgert mich das Figurantentum in jenen Bereichen, welche sich selber als Träger der Vernunft und der Wahrheit ausgeben, es ärgert mich aber logischerweise nur dort, wo diese Behauptung enttäuscht wird, und das ist unglücklicherweise doch recht häufig der Fall. Ich will hier nicht von den eingebetteten Kriegsberichterstatterinnen sprechen – dieser Fall ist sowieso erledigt, bis auf jenen Hinweis, dass sich verschiedene Walfänger-Organisationen, denen man eigentlich nichts Böses zutrauen würde, recht naiv in die Dienste der Kriegführenden einspannen lassen, wenn sie dergleichen tun, dass in einem Krieg die Gräuel nur von der einen Krieg führenden Partei begangen werden und niemals von der anderen, die zufälligerweise dem gleichen jüdisch-christlichen Kulturkreis angehört. Aber wie gesagt, das sind erledigte Fälle. Dagegen ärgern mich die kritischen Medieninstitute wie zum Beispiel der Kultursender Arte immer mal wieder mit Dokumentationen, die ein um Logik und Wahrheit ringender Journalist oder Redakteur einfach nicht über den Äther schicken sollte. Kürzlich sah ich eine Sendung über die Zucker-Lobby,welche mit allen Mitteln versucht, die Volksgesundheit zu zerstören, um so auf ihre Profitzahlen zu kommen. In erster Linie wurde hier mit Material aus den Vereinigten Staaten gearbeitet, was sowieso das transatlantische Feindbild im Zeitalter Trumps wieder bestätigt; gleichzeitig war das Material aber ziemlich steinalt, und die übelsten Zuckerverbrecher, zum Beispiel Coca-Cola, erhielten nicht einmal eine Randbemerkung über Cola Light oder Cola Zero zugestanden. Davon abgesehen aber überging dieser Zucker-Profit-Skandalbeitrag ganz einfach die Tatsache, dass es dem US-amerikanischen Durchschnittskonsumenten völlig schnuppewurst ist, was er isst. Daran hat nicht die Zuckerlobby schuld, und mehr weiß ich hier auch nicht. Kaum war dieser Beitrag fertig ausgestrahlt, kam schon der nächste, und zwar handelte es sich um eine Neuauflage der Sand-Hysterie. Der Welt geht der Sand aus. Ich habe mit jenen Gehirnzellen, welche noch keinen Demonstrationsumzug durch meinen Kopf veranstalteten, dann doch noch wahrgenommen, dass es sich um speziellen Sand handelt mit speziellen Eigenschaften, welcher für den Bau der künstlichen Inseln vor den Arabischen Emiraten und so weiter aus aller Welt herbei gekarrt beziehungsweise geschippert wird. Aber der Beitrag konnte es sich nicht verkneifen, diesen Sand-Alarm noch zu ergänzen mit Bildern von wunderbaren Korallenriffen und lebendigen Meeresgrundlandschaften, von welchen nun wiederum aus reinen Profitgründen der Sand abgesaugt wird, sodass Indonesien und die Philippinen in wenigen Monaten ganz und gar ohne Meeresflora und Meeresfauna dastehen werden, nur damit sich die deutschen Touristinnen auf den Palmeninseln im Persischen Golf die Füße platt treten können. Also wirklich – solche Sendungen gehören als üble Attacken auf die Grundlage der menschlichen Gesellschaft, nämlich eben die aufgeklärte Vernunft, strikt verboten.