"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Katastrophenalarm -
ID 56514
Man kann nicht wissen, wie es herausgekommen wäre, wenn der Stotter-Stoiber vor 11 Jahren als erster Bayer zum Bundeskanzler gewählt worden wäre. Vermutlich hätten wir heute eine SPD-Regierung, und der Gegenkandidat zu, sagen wir mal Andrea Nahles wäre vielleicht Christian Wulff oder Volker Kauder.
Audio
10:33 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 11.06.2013 / 09:14
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Dateizugriffe: 494
Klassifizierung
tipo: Kommentar
idioma: deutsch
áreas de redacción: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung
autoras o autores: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
fecha de producción: 11.06.2013
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
Die Finanzkrise hätte sich wohl trotz heftiger Gegenwehr der SPD nicht vermeiden lassen, die Hypo Real Estate und die WestLB und die HSH Nordbank hätten auch unter Nahles Staatsgarantien in Anspruch genommen, und die bayrische Landesbank hätte die Hypo Alpe Adria unter dem wieder nach München zurückgekehrten Edmund Stoiber genauso übernommen wie unter dem nie nach Berlin weggezogenen Edmund Stoiber mit dem daraus folgenden Verlust von 3 Milliarden Euro für die bayrische Staatskasse, und unser Stoiber-Ede hätte auch so behauptet, nie auch nur irgend ein kleines bisschen mit diesem Deal zu tun gehabt zu haben. Kurz: Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre Deutschland auch unter einer sozialdemokratischen Regierung heute ein im Kern sozialdemokratisches Land, wie es dies im Westen seit rund 40 Jahren ist.
Aber Stoiber wurde ja gar nicht gewählt, sondern der Schrödergerd kam damals mit einem blauen Auge davon, indem ihm das Hochwasser der Elbe die spielentscheidenden Prozentpunkte bei den Wahlen verschaffte; und was liegt demzufolge für einen durchschnittlichen Journalisten näher, als heute der Bundeskanzlerin Angela Merkel vorzuwerfen, sie würde mit dem neuerlichen Hochwasser Wahlkampf betreiben. Was wäre wohl gemäß besagtem durchschnittlichem Journalisten die korrekte Haltung gewesen? Eine Sondersteuer zu erheben für alle vom Hochwasser Geschädigten, vermutlich, um jeden Anschein einer Profilierung zulasten der Opfer zu vermeiden. Solche Dinge beziehungsweise solche Journalistinnen und vor allem die Redaktionen, welche derartige Furzrülpser veröffentlichen, vermag ich nur schwer zu begreifen, nämlich konkret überhaupt nicht. Dass die amtierende Bundeskanzlerin und der Bundespräsident sich bei einem Katastrophenfall ins Katastrophengebiet begeben, hat seine innere Logik, und ich möchte mal die Reaktion derselben Journalistinnen sehen, wenn sie diese Besuche unterlassen hätten – man kann sie sich recht plastisch ausrechnen, ohne dazu viel mehr als zwei Zeigefinger zu benötigen. Wie nennt man so was? Ressentiment ohne Inhalt? Wäre also Journalismus in schönen Teilen nur noch die Klaviatur des Ressentiments? In dem Falle möchte ich dringend zur Bildung eines neuen Métiers raten, von dem all die PR-Handwerkerinnen und Ressentiment-Klöpplerinnen kategorisch auszuschließen wären. Dafür sind vor über zweihundert Jahren nicht zahllose Menschen ins Gefängnis gegangen, dass man heute unter dem Deckmantel der Meinungsäußerungsfreiheit solchen Stuss auftischt. Lohnschreiberei in Ehren, aber dann muss sie auch so heißen und eben nicht etwa Journalismus.
Davon unabhängig erstaunt es mich doch, wie sich das schlechte Wetter nicht nur aufs Gemüt, sondern direkt auf die Pegelstände verschiedener Flüsse auswirkt. Nicht, dass mir die Logik entginge, aber ich hatte mir gedacht, dass ein Jahrhundert-Hochwasser nur ein Mal im Jahrhundert auftritt und nicht zwei Mal innerhalb von 11 Jahren. Wird uns das nun zum Normalfall? Und gleichzeitig ist es am Nordkap 30 Grad heiß. Ein normaler Mensch würde sagen: Herr Bundespräsident, so geht das nicht, unternehmen Sie mal etwas dagegen, und Joachim Gauck würde einfach mit der Schulter zucken und etwas über normative Intelligenz von sich geben. – Anderseits ist der Mensch bewundernswert anpassungsfähig und nimmt auch immer wieder Neuinterpretationen von Situationen vor, die eigentlich durchaus stabil aussahen. Nehmen wir nur mal unseren allseits geschätzten türkischen Premierminister Erdogan. Jetzt hatte man doch gedacht, dem Mann sei geglückt, wovon alle anderen Regimes in dieser Region nur träumen, nämlich einerseits die dringend notwendigen Reformen in Staat und Wirtschaft vorzunehmen und insbesondere den Klüngel zwischen Staat, Militär und Wirtschaft aufzubrechen; tatsächlich zeigen sämtliche Wirtschaftsindikatoren positive Werte an. Gleichzeitig stellen wir echte Fortschritte fest im Verhältnis zu den Kurden, wie jeder normale Prozess selbstverständlich auch mit Rückschlägen, aber insgesamt doch mit einer gewaltigen Normalisierung, der Einrichtung eines kurdischsprachigen TV-Senders und jetzt den neuesten Verhandlungsanstrengungen mit dem prominenten Gefangenen Öcalan, dem Erdogan wohl so etwas wie eine Nelson-Mandela-Rolle in Aussicht gestellt hat, vermutlich unter gütiger Beihilfe der Franzosen. Gleichzeitig war vom Moslem Erdogan nicht wirklich eine Christianisierungswelle zu erwarten, und genau diese Erwartungen hat er voll erfüllt. Eine gewisse Prominenz erhielt er durch den arabischen Frühling, indem sozusagen die neue Pforte als mögliche Alternative zur simplen Ausrichtung an Europa erschien; und den Konflikt im benachbarten Syrien hat er bisher, aus Distanz betrachtet und ohne weitere Geheimdienst-Informationen, auch recht anständig abgewickelt. Und nun manifestiert sich trotzdem seit Wochen eine urbane Unmut, welche darauf hinweist, dass er den Spagat zwischen Islam und Moderne eben doch nicht so richtig geschafft hat. Mag sein, dass er in den letzten Jahren den Überblick verloren hat, was bei so halbwegs autokratischen Herrschern durchaus nicht unüblich ist, und autokratisch kann man ihn nennen angesichts der langjährigen Regierungszeit ohne ernsthafte Opposition. Vielleicht handelt es sich aber auch bloß um einen Ausschlag des Pendels, so wie es in der Kurdenfrage zwischenzeitlich Rückschläge gab. Auf jeden Fall handelt es sich um den glaubwürdigen und legitimen Ausdruck der Forderung – nach einem sozialdemokratischen Staat, logisch. Westlich in der Ausrichtung, nicht übertrieben religiös, mit dem Versprechen von Chancen und Freiheit sowie mit einer minimalen sozialen Sicherung. Daran kann kein Zweifel bestehen, ebenso wenig wie daran, dass die Türkei, AKP und Erdogan hin oder her, auf bestem Weg in diese Richtung ist.
Was Syrien angeht, so hat man den Eindruck, dass der Meute an angeblichen Journalisten doch langsam etwas unheimlich wird angesichts der Präsenz der sunnitischen Extremisten von Salafisten bis zu Al Kaida auf Seiten der authentischen Freiheitskämpfer, welche immer mit Wattebäuschchen um sich werfen, wie ihr euch erinnert. So ganz verschwunden sind die Reflexe noch nicht; nach wie vor werfen die Medien der syrischen Armee implizit vor, dass sie in diesem Krieg ihre Waffen tatsächlich einsetzen, als ob allein das schon gegen die Menschenrechtskonvention verstieße. Nach wie vor sehen wir Fotos von pittoresk zwischen Sandsäcken hingeschmiegten Rebellen, die allein durch ihre Pose schon Recht haben und gut sind. Wenn wir das mal beiseite lassen, dann sehen wir halt, wie die Saudis und ihre kleinen Brüder von den Arabischen Emiraten versuchen, die Intimfeinde von der schiitischen Fraktion nach Kräften zurückzudrängen, nachdem der Schuss im Irak soweit nach hinten los gegangen ist. Und ihre Sturmtruppen sind eben ziemlich zuverlässig bei den Fundamentalisten zu verorten, was völlig im Gegensatz steht zu jenen Legenden, welche die internationale eingebettete Journalistenschar jetzt bald ein Jahr schon verbreitet. – Per Saldo kann man aber davon ausgehen, dass diese Geschichte am Schluss zwischen den USA und Russland ausgekäst wird, selbstverständlich unter Rücksprache mit ihren jeweiligen Alliierten.
Wahlkampf ist gegenwärtig nicht nur in Deutschland, sondern auch im Iran. Kürzlich sah ich einige Kandidaten vor oder bei einem Podiumsgespräch, ich kanns nicht sagen, weil ich eh nichts verstehe, ob sie sprechen oder schweigen. Dabei stachen mir zwei Dinge ins Auge, beide aus dem Modefach. Das eine betraf die Haarpracht. Die Herren nannten allesamt einen silbergrau mattierten Haardeckel ihr eigen. Im iranischen Wahlkampf ist solch ein Skalp Voraussetzung für die Wählbarkeit. Und dann verdichtete sich ein weiteres modisches Merkmal zur echten symbolischen Aussage. Alle Kandidaten trugen einen Second-Hand-Anzug über einem weißen Hemd, dessen oberster Knopf offen stand und immer lauter rief: Hier befindet sich keine Krawatte! – Tatsächlich unterscheidet sich der Iraner in diesem Kernbereich einerseits vom sunnitischen Scheich, welcher sowieso in einen Sari gehüllt herum schwebt, aber vor allem zeigt er sich mächtig unabhängig von westlichen Tischsitten. Ich weiß nicht, wie weit ein Zusammenhang besteht damit, dass zum Beispiel die US-Präsidenten manchmal ganz bewusst locker und in Freizeitkleidung auftreten, also durchaus ähnlich wie die iranischen Politiker, aber in diesen Momenten ist man dann eben entspannt und nicht formell, obwohl dieses Auftreten sehr bewusst eingesetzt wird und durchaus signalisiert, dass man im informellen Rahmen manchmal durchaus weiter kommt als an den steifen Verhandlungstischen. Der Iraner aber macht seit Jahr und Tag aus dem Fehlen der Krawatte das offizielle Zeichen des Antizionismus und Antiimperialismus. Ist das nicht putzig? Wirklich, je länger ich auf diesen offenen obersten Hemdknopf starre, desto stärker erinnert er mich nicht nur an die Krawatten, sondern auch an die Silberkreuze, welche orthodoxe und römisch-katholische Potentaten in der Regel an dieser Stelle tragen und deren Funktion die Krawatten im weltlichen Sinn eingenommen haben. Das ist doch schon sehr bedeutend, nehme ich an. Und anfügen muss ich noch, dass es im Iran natürlich auch die Mullahs gibt, welche ihren Namen mit Sicherheit von den Mullbinden haben, welche sie auf dem Haupt tragen; bei ihnen geht es dann wieder eher in Richtung Saudis, sie tragen ebenfalls Überwürfe und oft auch Pullover und solchen Kram. Aber die Botschaft und die Rangaussagen dieser Kleiderordnung haben sich mir noch nicht erschlossen.
Im Iran ist der Wahlausgang ziemlich offen, während man bei euch davon ausgehen kann, dass eure sozialdemokratische Regierung wieder gewählt wird. Mir persönlich ist das Recht. Ich bin kein begeisterter Anhänger der Sozialdemokratie, aber ich finde sie einfach die zeitgemäße politische Ausdrucksform. Ich würde mir wünschen, dass bei Gelegenheit wieder mal eine Grundlagendiskussion vom Zaun getreten wird über die Einrichtung der Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung und Vollautomation bei gleichzeitiger technologischer Entwicklung auf Hochdruck. Im Moment hat man den Eindruck, als hätten sich die wesentlichen Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft vollkommen verselbständigt und träten den Menschen und ihren Organisationen als fremde Instanzen gegenüber. Also heißt die Frage eigentlich die, ob und wie es den Menschen gelingt, ihre Geschicke wieder in die eigene Hand zu nehmen. Da ist aber wirklich viel Aufklärungsarbeit zu leisten vorher. Und diese Arbeit trägt den Namen Aufklärung zu Recht; es ist eben das genaue Gegenteil dessen, was ein Großteil der Medien beim blinden Spiel mit Ressentiments betreibt. Man könnte und sollte die wirksamen Gründe und Bewegkräfte aufdecken und erklären; stattdessen macht das Pack einfach sein Geschäft mit der ausdrücklichen Bewirtschaftung des Nichtwissens. Das ist ziemlich widerlich.
Aber Stoiber wurde ja gar nicht gewählt, sondern der Schrödergerd kam damals mit einem blauen Auge davon, indem ihm das Hochwasser der Elbe die spielentscheidenden Prozentpunkte bei den Wahlen verschaffte; und was liegt demzufolge für einen durchschnittlichen Journalisten näher, als heute der Bundeskanzlerin Angela Merkel vorzuwerfen, sie würde mit dem neuerlichen Hochwasser Wahlkampf betreiben. Was wäre wohl gemäß besagtem durchschnittlichem Journalisten die korrekte Haltung gewesen? Eine Sondersteuer zu erheben für alle vom Hochwasser Geschädigten, vermutlich, um jeden Anschein einer Profilierung zulasten der Opfer zu vermeiden. Solche Dinge beziehungsweise solche Journalistinnen und vor allem die Redaktionen, welche derartige Furzrülpser veröffentlichen, vermag ich nur schwer zu begreifen, nämlich konkret überhaupt nicht. Dass die amtierende Bundeskanzlerin und der Bundespräsident sich bei einem Katastrophenfall ins Katastrophengebiet begeben, hat seine innere Logik, und ich möchte mal die Reaktion derselben Journalistinnen sehen, wenn sie diese Besuche unterlassen hätten – man kann sie sich recht plastisch ausrechnen, ohne dazu viel mehr als zwei Zeigefinger zu benötigen. Wie nennt man so was? Ressentiment ohne Inhalt? Wäre also Journalismus in schönen Teilen nur noch die Klaviatur des Ressentiments? In dem Falle möchte ich dringend zur Bildung eines neuen Métiers raten, von dem all die PR-Handwerkerinnen und Ressentiment-Klöpplerinnen kategorisch auszuschließen wären. Dafür sind vor über zweihundert Jahren nicht zahllose Menschen ins Gefängnis gegangen, dass man heute unter dem Deckmantel der Meinungsäußerungsfreiheit solchen Stuss auftischt. Lohnschreiberei in Ehren, aber dann muss sie auch so heißen und eben nicht etwa Journalismus.
Davon unabhängig erstaunt es mich doch, wie sich das schlechte Wetter nicht nur aufs Gemüt, sondern direkt auf die Pegelstände verschiedener Flüsse auswirkt. Nicht, dass mir die Logik entginge, aber ich hatte mir gedacht, dass ein Jahrhundert-Hochwasser nur ein Mal im Jahrhundert auftritt und nicht zwei Mal innerhalb von 11 Jahren. Wird uns das nun zum Normalfall? Und gleichzeitig ist es am Nordkap 30 Grad heiß. Ein normaler Mensch würde sagen: Herr Bundespräsident, so geht das nicht, unternehmen Sie mal etwas dagegen, und Joachim Gauck würde einfach mit der Schulter zucken und etwas über normative Intelligenz von sich geben. – Anderseits ist der Mensch bewundernswert anpassungsfähig und nimmt auch immer wieder Neuinterpretationen von Situationen vor, die eigentlich durchaus stabil aussahen. Nehmen wir nur mal unseren allseits geschätzten türkischen Premierminister Erdogan. Jetzt hatte man doch gedacht, dem Mann sei geglückt, wovon alle anderen Regimes in dieser Region nur träumen, nämlich einerseits die dringend notwendigen Reformen in Staat und Wirtschaft vorzunehmen und insbesondere den Klüngel zwischen Staat, Militär und Wirtschaft aufzubrechen; tatsächlich zeigen sämtliche Wirtschaftsindikatoren positive Werte an. Gleichzeitig stellen wir echte Fortschritte fest im Verhältnis zu den Kurden, wie jeder normale Prozess selbstverständlich auch mit Rückschlägen, aber insgesamt doch mit einer gewaltigen Normalisierung, der Einrichtung eines kurdischsprachigen TV-Senders und jetzt den neuesten Verhandlungsanstrengungen mit dem prominenten Gefangenen Öcalan, dem Erdogan wohl so etwas wie eine Nelson-Mandela-Rolle in Aussicht gestellt hat, vermutlich unter gütiger Beihilfe der Franzosen. Gleichzeitig war vom Moslem Erdogan nicht wirklich eine Christianisierungswelle zu erwarten, und genau diese Erwartungen hat er voll erfüllt. Eine gewisse Prominenz erhielt er durch den arabischen Frühling, indem sozusagen die neue Pforte als mögliche Alternative zur simplen Ausrichtung an Europa erschien; und den Konflikt im benachbarten Syrien hat er bisher, aus Distanz betrachtet und ohne weitere Geheimdienst-Informationen, auch recht anständig abgewickelt. Und nun manifestiert sich trotzdem seit Wochen eine urbane Unmut, welche darauf hinweist, dass er den Spagat zwischen Islam und Moderne eben doch nicht so richtig geschafft hat. Mag sein, dass er in den letzten Jahren den Überblick verloren hat, was bei so halbwegs autokratischen Herrschern durchaus nicht unüblich ist, und autokratisch kann man ihn nennen angesichts der langjährigen Regierungszeit ohne ernsthafte Opposition. Vielleicht handelt es sich aber auch bloß um einen Ausschlag des Pendels, so wie es in der Kurdenfrage zwischenzeitlich Rückschläge gab. Auf jeden Fall handelt es sich um den glaubwürdigen und legitimen Ausdruck der Forderung – nach einem sozialdemokratischen Staat, logisch. Westlich in der Ausrichtung, nicht übertrieben religiös, mit dem Versprechen von Chancen und Freiheit sowie mit einer minimalen sozialen Sicherung. Daran kann kein Zweifel bestehen, ebenso wenig wie daran, dass die Türkei, AKP und Erdogan hin oder her, auf bestem Weg in diese Richtung ist.
Was Syrien angeht, so hat man den Eindruck, dass der Meute an angeblichen Journalisten doch langsam etwas unheimlich wird angesichts der Präsenz der sunnitischen Extremisten von Salafisten bis zu Al Kaida auf Seiten der authentischen Freiheitskämpfer, welche immer mit Wattebäuschchen um sich werfen, wie ihr euch erinnert. So ganz verschwunden sind die Reflexe noch nicht; nach wie vor werfen die Medien der syrischen Armee implizit vor, dass sie in diesem Krieg ihre Waffen tatsächlich einsetzen, als ob allein das schon gegen die Menschenrechtskonvention verstieße. Nach wie vor sehen wir Fotos von pittoresk zwischen Sandsäcken hingeschmiegten Rebellen, die allein durch ihre Pose schon Recht haben und gut sind. Wenn wir das mal beiseite lassen, dann sehen wir halt, wie die Saudis und ihre kleinen Brüder von den Arabischen Emiraten versuchen, die Intimfeinde von der schiitischen Fraktion nach Kräften zurückzudrängen, nachdem der Schuss im Irak soweit nach hinten los gegangen ist. Und ihre Sturmtruppen sind eben ziemlich zuverlässig bei den Fundamentalisten zu verorten, was völlig im Gegensatz steht zu jenen Legenden, welche die internationale eingebettete Journalistenschar jetzt bald ein Jahr schon verbreitet. – Per Saldo kann man aber davon ausgehen, dass diese Geschichte am Schluss zwischen den USA und Russland ausgekäst wird, selbstverständlich unter Rücksprache mit ihren jeweiligen Alliierten.
Wahlkampf ist gegenwärtig nicht nur in Deutschland, sondern auch im Iran. Kürzlich sah ich einige Kandidaten vor oder bei einem Podiumsgespräch, ich kanns nicht sagen, weil ich eh nichts verstehe, ob sie sprechen oder schweigen. Dabei stachen mir zwei Dinge ins Auge, beide aus dem Modefach. Das eine betraf die Haarpracht. Die Herren nannten allesamt einen silbergrau mattierten Haardeckel ihr eigen. Im iranischen Wahlkampf ist solch ein Skalp Voraussetzung für die Wählbarkeit. Und dann verdichtete sich ein weiteres modisches Merkmal zur echten symbolischen Aussage. Alle Kandidaten trugen einen Second-Hand-Anzug über einem weißen Hemd, dessen oberster Knopf offen stand und immer lauter rief: Hier befindet sich keine Krawatte! – Tatsächlich unterscheidet sich der Iraner in diesem Kernbereich einerseits vom sunnitischen Scheich, welcher sowieso in einen Sari gehüllt herum schwebt, aber vor allem zeigt er sich mächtig unabhängig von westlichen Tischsitten. Ich weiß nicht, wie weit ein Zusammenhang besteht damit, dass zum Beispiel die US-Präsidenten manchmal ganz bewusst locker und in Freizeitkleidung auftreten, also durchaus ähnlich wie die iranischen Politiker, aber in diesen Momenten ist man dann eben entspannt und nicht formell, obwohl dieses Auftreten sehr bewusst eingesetzt wird und durchaus signalisiert, dass man im informellen Rahmen manchmal durchaus weiter kommt als an den steifen Verhandlungstischen. Der Iraner aber macht seit Jahr und Tag aus dem Fehlen der Krawatte das offizielle Zeichen des Antizionismus und Antiimperialismus. Ist das nicht putzig? Wirklich, je länger ich auf diesen offenen obersten Hemdknopf starre, desto stärker erinnert er mich nicht nur an die Krawatten, sondern auch an die Silberkreuze, welche orthodoxe und römisch-katholische Potentaten in der Regel an dieser Stelle tragen und deren Funktion die Krawatten im weltlichen Sinn eingenommen haben. Das ist doch schon sehr bedeutend, nehme ich an. Und anfügen muss ich noch, dass es im Iran natürlich auch die Mullahs gibt, welche ihren Namen mit Sicherheit von den Mullbinden haben, welche sie auf dem Haupt tragen; bei ihnen geht es dann wieder eher in Richtung Saudis, sie tragen ebenfalls Überwürfe und oft auch Pullover und solchen Kram. Aber die Botschaft und die Rangaussagen dieser Kleiderordnung haben sich mir noch nicht erschlossen.
Im Iran ist der Wahlausgang ziemlich offen, während man bei euch davon ausgehen kann, dass eure sozialdemokratische Regierung wieder gewählt wird. Mir persönlich ist das Recht. Ich bin kein begeisterter Anhänger der Sozialdemokratie, aber ich finde sie einfach die zeitgemäße politische Ausdrucksform. Ich würde mir wünschen, dass bei Gelegenheit wieder mal eine Grundlagendiskussion vom Zaun getreten wird über die Einrichtung der Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung und Vollautomation bei gleichzeitiger technologischer Entwicklung auf Hochdruck. Im Moment hat man den Eindruck, als hätten sich die wesentlichen Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft vollkommen verselbständigt und träten den Menschen und ihren Organisationen als fremde Instanzen gegenüber. Also heißt die Frage eigentlich die, ob und wie es den Menschen gelingt, ihre Geschicke wieder in die eigene Hand zu nehmen. Da ist aber wirklich viel Aufklärungsarbeit zu leisten vorher. Und diese Arbeit trägt den Namen Aufklärung zu Recht; es ist eben das genaue Gegenteil dessen, was ein Großteil der Medien beim blinden Spiel mit Ressentiments betreibt. Man könnte und sollte die wirksamen Gründe und Bewegkräfte aufdecken und erklären; stattdessen macht das Pack einfach sein Geschäft mit der ausdrücklichen Bewirtschaftung des Nichtwissens. Das ist ziemlich widerlich.