"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Erdmännchen und Brüllaffen

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Unabhängig von den Mengenangaben, also ob nun 100'000 Flüchtlinge ins Land strömen oder eine Million im Jahr, reißt die Migration mehr als alle anderen Themen die Widersprüche im modernen Leben auf.

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09:54 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.04.2018 / 10:12

Dateizugriffe: 63

Klassifizierung

tipo: Feature
idioma: deutsch
áreas de redacción: Politik/Info
serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

autoras o autores: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
fecha de producción: 17.04.2018
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Unabhängig von den Mengenangaben, also ob nun 100'000 Flüchtlinge ins Land strömen oder eine Million im Jahr, reißt die Migration mehr als alle anderen Themen die Widersprüche im modernen Leben auf.Besonders absurd sind die Debatten um die Identität, und zwar nicht wegen der kul­tu­rel­len Dimension, welche tatsächlich zu diskutieren ist, sondern wegen des Verweises auf das Völ­ki­sche, wie dies in Deutschland offenbar obligatorisch ist. Die Tatsache, dass es so etwas wie ein deut­sches Volk gar nicht gibt, scheint nicht mehr ein fester Bestandteil des Nationalbewusstseins zu sein. Vielleicht müsste man die Inschrift auf dem Reichs- und Bundestag doch bei Gelegenheit mal verändern. «Der Bevöl­kerung Deutschlands» wäre eine erste Näherung, möglicherweise korrekter, aber doch aufwändiger: «Hier ist der Tummelplatz der Kapital- und Interessenvertretungen in diesem Rechtsraum.» Der Rest Europas ist in dieser Beziehung etwas entspannter. Aber überall fehlen klare Vor­stel­lungen von einem Weg, der in eine friedliche Gesellschaft auf der Grundlage von Wohlstand für alle, nämlich welt­weit, führen soll. Stattdessen debattiert man darüber, wie man die Grenzen möglichst dicht machen kann, während jede Deutsche pro Jahr im Durchschnitt zwei Mal ins Ausland fliegt. Nun gut, die Welt lebt nicht nur, sondern besteht geradezu aus Wider­sprü­chen, das weiß eine jede, die den Grundkurs in Dialektik absolviert hat, aber man sollte dann doch beide Seiten dieses Widerspruches berücksichtigen, und nur darum geht es nämlich.

Der wichtigste Punkt in der Flüchtlings- oder Zuwanderungsfrage ist jener, wie und wieviele Men­schen aus anderen Kulturen man integrieren kann. Jene Menschen, welche der Pegida und anderen nationalistischen Bewegungen hinterher laufen, werden angetrieben von Befürchtungen auf dieser Ebene. Neu ist das zum einen nicht; schon die Spanier und Portugiesen, die Italienerinnen und Türkinnen und dann die Jugoslawinnen und seit ein paar Jahren die Polinnen und Polen und andere Abgänger aus ehemaligen Ostblockstaaten wurden immer mit Ablehnung und Misstrauen emp­fan­gen. Die Mehrheit von ihnen sind schon längstens geschätzte Bestandteile der Kultur in eurem Land geworden, einschließlich ihrer negativen Seiten, die sie ebenso haben wie die Ureinwohnerinnen und Ureinwohner. Immerhin hatten diese Einwandererinnen nicht einen derart langen kulturellen Weg zurückzulegen wie die Menschen aus den moslemischen Gesellschaften, deren Zeitrechnung im Vergleich zum Christentum unterdessen ungefähr bei der Reformation angekommen ist. Aller­dings gibt es im Islam ebenso gewaltige Unterschiede wie bei den Christinnen und Christen, nicht nur zwischen Sunniten und Schiiten, sondern vor allem nach Regionen; rund um das Mittelmeer besteht seit tausenden von Jahren ein mehr oder weniger einheitlicher Kulturraum, egal, ob der nun römisch-heidnisch, christlich oder islamisch geprägt war. Gerade mit den Nordafrikanern müsste man sich eigentlich sehr schnell einigen können, zum Beispiel durch einen Assoziationsvertrag der EU mit Marokko, Algerien und Tunesien.

Einen viel längeren Kulturweg haben die Menschen aus Afrika südlich der Sahara zu gehen; sie kommen aus Ländern, die sich in einer radikalen Umwandlung befinden von einem Set an Wider­sprüchen, das noch wichtige Elemente aus Steinzeitgesellschaften enthält, in eine Widerspruchslage aus modernen Ambitionen mit der Unfähigkeit, sie zu realisieren. Immerhin fällt ihnen die Inte­gration insofern leichter, als sie nicht von einem Satz an ideologisch-religiösen Scheuklappen daran gehindert werden wie die koloniale Erbmasse in Frankreich und Belgien, welche tatsächlich zu einem großen Rekrutierungsfeld für die Extremisten aus Saudiarabien geworden ist.

Damit soll ja nun übrigens Schluss sein, wie man liest, beim aktuellen Despoten in Riad soll es sich um einen aufgeklärten Despoten handeln, welcher sogar den Frauen das Autofahren erlaubt, spä­tes­tens dann, wenn nur noch selbst fahrende Fahrzeuge auf dem Markt sind. Das ist ja schön, bezie­hungsweise man erhält eine Ahnung davon, wie tief sich die Saudis in der Scheiße wähnen, wenn sie schon von selbst fahrenden Frauen phantasieren und mit ihrem Erzfeind Israel paktieren, um den noch erzerneren Feind in Teheran in die Schranken zu weisen.

Wie auch immer: Integration ist nicht nur möglich, sie ist eine Tatsache, sie ist sogar eine Konstante in der gesamten Menschheitsgeschichte. Die Vereinigten Staaten gelten als Schmelztiegel, aber noch vorher waren eben die Mittelmeerländer Schauplatz ständiger Bewegung, zum Teil in der Form von Kriegen, zum Teil in der Form friedlicher Wanderung, und immer wieder stellte sich nach einer gewisser Zeit eine neue Normalität ein, welche die Zugewanderten mit einschloss. Einmal abgesehen davon, dass die Normalität nicht einmal Zuwanderung braucht, um sich radikal zu verändern; die postindustrielle Gesellschaft hat mit der Nachkriegsgesellschaft und diese wiederum mit der Vorkriegsgesellschaft, jener um die Wende zum 20. Jahrhundert und so weiter nicht besonders viel am Hut.

Integration ist eine Tatsache, aber das Bestreben, sie nach Maßgabe unserer Vorstellungen und möglichst friedlich zu vollziehen, ist selbstverständlich legitim und lobenswert, und dazu gehört durchaus auch die Feststellung, dass Deutschland und Europa nicht unbeschränkt Migrantinnen aus allen anderen Erdteilen aufnehmen kann. Es ist wohl nicht besonders sinnvoll, in diesem Zu­sam­men­hang Zahlen und Obergrenzen zu nennen. Wichtig ist vielmehr die Bereitschaft zur Integration, zur Schaffung von Umständen, Wohnraum, Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für jene Zu­zü­ge­rin­nen und Zuzüger, die nicht direkt von der Wirtschaft absorbiert werden. Man braucht die dazu notwendigen Mittel nicht einmal freudigen Herzens bereitzustellen, es reicht völlig die dumpfe Einsicht in die Notwendigkeit, welche in gewissen Gesellschaftskreisen auch «Freiheit» genannt wird. Aber die braucht es, und es braucht auch die intellektuelle Größe, nicht jeden Euro, der für die Finanzierung solcher Einrichtungen ausgegeben wird, gegenzurechnen mit jenen Summen, welche nicht vorhanden sind für die Besserstellung der ärmeren Bevölkerungsschichten. Es versteht sich von selber, dass auch dies, also die Hebung des allgemeinen Wohlstandes durch die Hebung des Wohlstandes der ärmeren Bevölkerungsteile, wo sie am stärksten ins Gewicht fällt, eine Selbst­verständlichkeit moderner Politik bilden muss.

Gänzlich vertrackt wird die Sache dort, wo wir der modernen Gesellschaft mit Modellen unter­ge­gan­gener Gesellschaftsformen zu Leibe zu rücken versuchen. So hat sich die kapitalistische Er­werbs­arbeit in der Zwischenzeit entwickelt, weg aus dem systembildenden Gegensatz von Arbeit und Kapital zu einer postindustriellen Form der Zuteilung von Kaufkraft. Der Beschäftigungsanteil, der für die tatsächliche Produktion von materiellen oder immateriellen Gütern gebraucht wird, ist substanziell geschrumpft. Auf der anderen Seite hat der Nationalstaat eine neue Bedeutung erhalten, vor allem durch die jeweilige Ausgestaltung der Sozial- und Steuersysteme mit den daraus ent­ste­henden handfesten Konflikten unter diesen Staaten, gerade auch in einem Staatenbund wie der EU. Unterhalb dieser Ebene haben die meisten Menschen Handlungs- und Entwicklungsmöglich­keiten gewonnen, wie sie noch keiner Gesellschaft in dieser Breite zur Verfügung standen. Die erwähnten Flugbewegungen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung sind ein Ausdruck davon. Und damit rücken zunehmend die Fragen aus dem Bereich Wohlstand in den Vordergrund: Was sollen Menschen denn tun, deren Bedürfnisse dauerhaft befriedigt werden können? Eine der Antworten auf diese Frage ist zweifellos die überkommene: Sie sollen arbeiten gehen. Das gibt ihren Tagen eine Struktur und dem Leben einen Sinn. Das wird uns aber auf absehbare Zeit nicht daran hindern, alternative Antworten zu geben. Das Leben im Paradies ist eine Realität, mindestens was die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse angeht, auch wenn der Zugang dazu noch nicht für alle im wünschenswerten und möglichen Ausmaß gesichert ist, aber dies ist nur eine Frage der Zeit. Und dann, was dann?

Unter den zahllosen möglichen Antworten leuchtet mir persönlich nur eine direkt ein: Der Mensch, das Subjekt, das Individuum muss sich in seinem Leben ausdrücken können. «Verwirklichen» geht mir zu weit, denn die Selbstverwirklichung setzt ein Selbst voraus, das verwirklicht werden kann, und dieses Selbst bestreite ich sicherheitshalber mal. Dagegen halte ich erfüllende Tätigkeiten für elementar, Tätigkeiten also, welche zum einen der persönlichen Neigung der Menschen entsprechen, und im Gegensatz zu einem abstrakten Selbst gibt es solche persönlichen Neigungen tatsächlich; zum anderen sollen die Neigungen und Fähigkeiten des Individuums permanent erweitert werden oder zumindest erweitert werden können; drittens aber braucht es auch eine Form der gesellschaftlichen Anerkennung dieser Tätigkeiten. So etwas wie eine gesellschaftliche Aner­ken­nung ist selbstverständlich am einfachsten möglich im Rahmen der bekannten gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Organisation, also im bekannten Produktionsablauf. Es ist aber mindestens denkbar, wo nicht überhaupt obligatorisch, auf diesem Gebiet neue Möglichkeiten zu entwickeln beziehungsweise bereits bestehende Routinen zu kanonisieren, also mit gesellschaftlicher Bedeu­tung aufzuladen. Solche Prozesse finden übrigens dauernd statt, sie können dabei gerne auch alte Formen annehmen; so sehe ich im Aufkommen von Freikirchen unbedingt den Ausdruck dieses Bedürfnisses nach gesellschaftlicher Anerkennung oder mindestens gesellschaftlicher Validierung. Eine Kirche bietet so etwas natürlich ganz beispielhaft. Wenn man nun nicht besonders religiös ist, muss man sich halt überlegen, wie man daneben auch weltliche Organisationsformen entwickelt.

Das ist übrigens einer der Gründe, weshalb ich immer wieder vorschlage, im Norden Erfurts eine große Mauer zu bauen. Mir fällt nämlich grad einfach nichts anderes ein, aber ich sähe durchaus einen künftigen Nutzen eines solchen Projektes, das vielleicht vergleichbar ist dem Nutzen eines Tierparks. Die Mauerbauerinnen und die Betreiberinnen dieses sehr lebendigen Teils hätten dann selbstverständlich die Funktion von Erdmännchen und Brüllaffen, versteht sich von selber.