Das social Distel-Ding – Kanalisierte Aufregung für den revolutionären Geist

ID 103162
 
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Teil 47 der Kolumne aus dem social distancing - Diesmal: Umgang mit der Wut und die große Aufregung nach der Stuttgarter Krawallnacht, die wunderbar von wirklichen Streitpunkten ablenkt
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mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 26.06.2020 / 18:24

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Arbeitswelt, Umwelt, Politik/Info
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 26.06.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wie war das nochmal mit dem revolutionärem Geist der social Distel-Dinger? Er hat uns erfasst und äußert sich in Rebellionen, immer dann, wenn Menschen auf die Widersprüche der Vor-Corona-Gesellschaft und die Grenzziehungen der In-Corona-Regierung stoßen. Denn: In der Krise stinkt alles, was davor schon am faulen war. Und: Mit der neuen Konzentration auf Politik und der Wahrnehmung der möglichen Eingriffe in die zwischenzeitlich selbstverständlich gewordenen Grundrechte, entzündet sich ein neues Selbstermächtigungsbedürfnis der zuvor zufrieden hauptsächlich auf ihre Kaufmacht achtenden Bürgerinnen und Bürger.
Für die parlamentarische Politik und ihre Institutionen ergibt das eine weitere Krise, die die derzeitige Sachlage verkompliziert. Die in der Pandemie-Zeit und aus ihr heraus politisch zu bearbeitenden Aufgaben sind insgesamt komplexe Angelegenheiten, die hier nur in Stichpunkten genannt werden können:
- Allgemeiner Schutz der Bevölkerung vor Covid-19
- Besonderer Arbeitsschutz bei zugleich gesteigertem Leistungsbedarf der Beamtinnen und Beamten
- Transparente Vermittlung der Entscheidungen und Entscheidungsgrundlagen
- Versorgung der Medizin mit stark nachgefragten lebenswichtigen Gütern auf einem überhitzten Weltmarkt
- Sicherstellung der wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit
- Abmilderung der wirtschaftlichen Krise für Unternehmen, Familien und Bedürftige
- Vorbereitung für Krisenszenarios finden ohne gänzliche Verunsicherung der Bevölkerung
- Forschung, Entwicklung und Verteilung wirksamer Medizin und eines möglichen Impfstoffs sicherstellen
- allgemeine Durchsetzung der getroffenen Regelungen
und natürlich: auch in der Krise demokratisch agieren.
Zusätzlich zu diesen verantwortungsvollen und absolut notwendigen Entscheidungen stehen einzelne Politiker*innen noch vor ihrer persönlichen Aufgabe: Profil gewinnen und politisch wie medial wahrgenommen werden.
Und mitten hinein in diese neue Überforderung in der Politik kommen dann noch die zuvor schon zerstrittenen Bevölkerung dieser Gesellschaft. Zu den Streitpunkten Migration und Klimawandel kommt jetzt auch noch der Umgang mit der Pandemie und der kollektive Umdenkprozess, der notwendig erfolgen muss, wenn die ausgetretenen Pfade der Routine verlassen werden müssen. Wenn Familie Schmitt dieses Jahr zum ersten Mal seit den letzten 15 Jahren keinen Urlaub zur selben Zeit am selben Ort machen kann, kommt eben etwas durcheinander. Statt Weinschorle am Pool gibt es jetzt ein Bier zur Tagesschau. Und statt entspannt in der Sonne zu fläzen, gilt es jetzt in jedem zweiten Wort der Tagesschau-Sprecher*innen eine „Frechheit“, „Verarschung“ oder „Verblödung“ zu finden.
All die aus dem Tritt gebrachten Schmidts, Müllers, Maiers und vielleicht auch die Yılmaz und Novaks sind ein Pulverfass für Politik und Gesellschaft. Nicht nur, dass sie sich über die Tagesschau aufregen, sie finden auch im Internet genehmere Thesen und Bestätigung, wenn sie ihre Schimpftiraden öffentlich machen. Die Rebellion der Wohnzimmer droht auch und vor allem, wenn sich Politikerinnen und Politiker hauptsächlich auf die kühle und sachliche Bearbeitung der Problemlagen konzentrieren. „Danke Merkel!“ - ist das Zitat, dass erhitzte Gemüter einem in diesem Zusammenhang um die Ohren hauen.
Andere Politiker*innen kennen allerdings einen Ausweg aus diesem Problem. Sie wissen, die Menschen wollen sich aufregen und geifernd vorm Fernseher sitzen. Sie wissen, ausgewogenes und überlegtes Handeln, vermitteln statt spalten und Verantwortung für die gesamte Bürger*innenschaft übernehmen, all das zahlt sich politisch nicht aus. Gerade Spaltung, sprachliche Verrohung und unhaltbare Ankündigungen sind das politische Kapital der Zeit. Das wissen nicht nur Donald Trump, Boris Johnson und die populistischen Rechtsradikalen von der AfD, nein, das weiß auch Horst „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme“ Seehofer.
Das ganze funktioniert mittlerweile auch zu einfach. Dank der ständigen Überprüfbarkeit, welche Artikel von Bild und Co. am meisten geklickt werden, wird klar, dass die Aufreger-Themen mehr ziehen. Sowohl bei denjenigen, die sich aufregen, als auch bei denjenigen die sich darüber aufregen, dass andere sich darüber aufregen. Und weil sie so gut ziehen, wird immer weiter darüber berichtet und die Berichterstattung von den ins Rampenlicht drängenden Politiker*innen, Expert*innen und Meinungsmacherinnen um zahlreiche Statements und Ankündigungen erweitert. So wie es eben der Horsti macht. Ankündigen, dass er eine Journalistin für einen polizeifeindlichen Text anzeigt, Pressetermin vor extra nochmal angekarrten kaputten Polizeiauto und jetzt dann der Rückzug der Anzeige. So kann eine Debatte aufgeblasen und ganz nebenbei der große gesellschaftliche Streitpunkt der Lufthansa-Rettung in den Hintergrund gerückt werden. Plötzlich ist es interessanter zu hören, was Horsti zu spontanen Krawallen in Stuttgart, Kritik an der Polizei und der Presse sagt. Und natürlich ist es auch viel spannender dazu seine Meinung abzugeben.
Es wäre ja auch zu schade gewesen, wenn das Aufregerthema der letzten beiden Wochen die Lufthansa-Rettung gewesen wäre. Wenn Hinz und Kunz die Frage gestellt hätten, ob dieses Rettung wirklich gut ist, wenn der Münchner Multi-Milliardär Heinz Hermann Thiele sich für günstiges Geld bei der Lufthansa einkaufen kann und dann durch die staatliche Rettung der Airline mit 9-Milliarden Euro Steuergeld auf einen fetten Gewinn und mehr Einflussmöglichkeiten auf den Konzern als der Staat hoffen darf, während gleichzeitig tausende Angestellte ihren Job verlieren. So wird es dann wohl auch nichts mit der Vorstellung einer klimasensiblen Luftfahrt, dem Verbot kurzer Inlandsflüge und damit auch mit einem klimapolitisch ausgelegten Umbau der Infrastruktur.
Oder aber wir hätten uns noch mehr über die versklavenden Arbeitsbedingungen von bei Subunternehmern in Schlachthöfen Angestellten in Deutschland aufgeregt und damit wiederum die Reichen und Mächtigen kritisiert.
So springen wir einfach weiter auf jedes Stöckchen, jeden Aufreger, jede politische Inkorrektheit, jede Möglichkeit für oder gegen Gendern zu agitieren. Eben auf jede Debatte, die gerade im Aufmerksamkeitsfokus liegt und lassen ab von den großen Fragen: Wollen wir einfach so weiter machen? Sollen diejenigen die vor der Krise sehr reich waren, von der Krise überdurchschnittlich profitieren? Ist die Vermögens- und Machtungleichheit auch weiterhin tragbar?
Vielleicht einfach mal den Fernseher ausmachen, nachdenken, diskutieren, Spaß haben. Und dann: Maske auf und‘s Maul aufreißen.

Kommentare
29.06.2020 / 18:22 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 29.6.. Vielen Dank!