Buchrezension "Hörsturz. Romantrilogie, Band 1" im Vergleich mit M. Houellebecq

ID 13705
 
Buchkritik zu "Hörsturz - Erster Ausriß eines Lebens", Romantrilogie, Band 1; erschienen Ende 2005 im Igel Verlag, Oldenburg. Die Rezension ist bereits mit passender Musik unterlegt und dadurch etwas länger. Der Autor Dr. Arno Gassmann wird - nicht ganz zufällig - dem frz. Bestsellerautor Michel Houellebecq gegenübergestellt.
Audio
23:46 min, 22 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.08.2006 / 11:46

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Arbeitswelt, Jugend, Kultur
Entstehung

AutorInnen:
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 30.08.2006
keine Linzenz
Skript

„I tell you to enjoy life,
I wish I could, but it’s too late.”
(“Paranoid”, Ozzy Osbourne 1970)

Oft sieht man Bücher, die als „Mängelexemplar“ gestempelt verkauft werden, was ein juristisch einwandfreies, pragmatisches Vorgehen ist, um die Buchpreisbindung für unverkäufliche Neuware zu umgehen, auch wenn diese keinerlei Mängel aufweist außer eben jenem häßlichen Stempel. Gassmanns Buch hat den Stempel nicht wie üblich seitlich angebracht, sondern der Pseudo-Stempel „Mängelexemplar“ ziert hier in saftigem Rot direkt den vorderen Buchdeckel, und zwar offenbar bei der gesamten Auflage. Assoziationsschwer fühlt man sich sofort an den Untertitel der „Minima Moralia“ Adornos erinnert: „Reflexionen aus dem beschädigten Leben.“ Meint der Autor Arno Gassmann mit dem M-Wort tatsächlich den Protagonisten des Romans?
Doch angeblich ist das Prädikat „Mängelexemplar“ ganz anders gemeint. Um den ausgebrannt-fertigen Charakter des Werks zu unterstreichen, habe der Autor bewußt auf ein Lektorat verzichtet, das kleine Rechtschreibfehler etc. noch vor Drucklegung korrigiert hätte. Damit zu werben, ist zwar einigermaßen plump und läßt die kritische Leseerwartung zunächst auf Narretei und den bemühten Humor von Schülerzeitungen zurechtschrumpfen. Doch zu Unrecht, wie sich herausstellt; das Buch hätte dieses Gimmick gar nicht nötig gehabt, zumal die orthografischen Fehler derart dünn gesät sind (und sich auch in prekären Sinnabschnitten nicht häufen), daß eine auf aufgesetzte Coolneß zielende Absicht ausgeschlossen scheint.
Band 1 des als Romantrilogie vorgesehenen Werks „Hörsturz“, das in Karlsruhe spielt, ist Ende 2005 beim klitzekleinen Igel Verlag erschienen und schickt sich an, Abräumer der Saison zu werden.

Der Autor hatte die zweifelhafte Ehre, in Karlsruhe Geisteswissenschaften zu studieren und darüberhinaus noch eine Promotion hinter sich zu bringen. Wer die sog. Universität Karlsruhe kennt, weiß, daß es sich hierbei um eine Fabrik mit akademischem Namen handelt; Denkfabrik, jenes eingedeutschte Wort für think tank, wäre der Ehre für diese Institution noch zu viel, behauptet dieses Wort doch, daß in der „Ingenieurschmiede“ (wie Die Zeit in einem der vielen überflüssigen Uni-Rankings schreibt, bei denen gerade die unerträglichsten Orte gut bis sehr gut abschneiden) Geist walten würde. Dennoch darf sich diese Hochschule eine Universität nennen, weil man sich, gleichsam als Alibi, eine winzige geistes- und sozialwissenschaftliche Fakultät hält, die bedeutungsträchtigerweise in denselben Gebäuden untergebracht ist wie die der Wirtschaftsingenieure. Dies ist in etwa so bezeichnend für Karlsruhe wie der Umstand, daß die größten Straßen der Stadt Namen tragen wie Kriegsstr., Kaiserstr., Karlstr. oder nach anderen verblichenen Monarchen benannt sind wie ja die ganze Stadt auch. Karlsruhe ist in jeder Hinsicht im Städtevergleich das, was Deutschland im internationalen Vergleich ist, oder, was fiese Streber in Schulklassen sind. Eigentlich schwer zu begreifen, wie eine vom sonnigen Klima so verwöhnte und auch sonst nicht häßliche Stadt derart abweisend sein kann. Dieses technische Hochschule gewordene Industriegebiet darf sich kurioserweise also Universität nennen, tut es aber nicht, ohne aus einem korporatistischen Gefühl heraus, das sich bar jeder realen Grundlage für Stolz hält, ein „(TH)“ anzufügen. Dies geschieht durchaus zurecht. Wer das Kleingedruckte auf unseriösen Vertragswerken mit gesundem Mißtrauen zu lesen gelernt hat, ahnt, welch diametrale Sinnentstellung dieser in Parenthesen angefügte Zusatz bedeuten muß. Es gibt keine Intellektuellen in dieser Stadt. In einer Männer-Konformitätsbrutstätte wie Karlsruhe dennoch eine Geisteswissenschaft wie Philosophie zu studieren, ist ein Unterfangen etwa so absurd, wie an einer Sonderschule sich auf analytische Geometrie zu spezialisieren. Wider besseres Wissen wird man das Gefühl nicht los, daß eben doch mit einem selbst etwas nicht stimme und die einfältige Umgebung eigentlich ganz normal sei.

„Dafür war ich satt und betrunken und hatte den Mund voll Erdnüsse. Zufrieden war ich dennoch nicht, aber das war ich ja noch nie.“

Parallelen zum französischen Bestsellerautor der Gegenwart sind nicht zu übersehen. Nicht nur heißt die Ich-Figur in Dr. Arno Gassmanns Buch Dr. Arnold Glaser, ähnlich wie die verzweifelten Hauptfiguren in Michel Houellebecqs Büchern oft den Namen Michel tragen. Auch bei Gassmann, und dies muß beabsichtigt sein, verschwimmen die Grenzen zwischen konstruierter Erbärmlichkeit der jeweiligen Hauptfigur und melancholischer Koketterie des Autors.
An gewissen Stellen lassen sich allerdings Unterschiede zwischen Roman-Ich und Autor vermuten. „Ich hasse es, berührt zu werden, meine körperliche Integrität ist mir über alle Maßen wichtig“ (Gassmann als Hörsturz-Glaser); oder „politisch engagierte Leute [...], die es für nötig erachteten, die Entwicklung der Gesellschaft in die eine oder andere Richtung voranzutreiben[, ...] hatten mir nie Sympathie oder Achtung eingeflößt“ (Houellebecq als Plattform-Michel). Gassmann wird nicht so dumm sein wie seine Romanfigur, die „irgendwie doch“ Sex will, aber vor Berührungen zurückschreckt. Ebenso könnte Houellebecq die ihn umgebende Gesellschaft in ihrer Totalität nicht so vernichtend kritisieren, wenn er nicht zutiefst von der Notwendigkeit (und damit der Möglichkeit) ihrer Umwälzung überzeugt wäre – daß die Politniks, die ihm so unsympathisch sind, in ihrer kollektiven Selbstgenügsamkeit Teil des Bestehenden, also des Problems sind und dadurch ihren erklärten Anspruch notwendig konterkarieren, steht freilich auf einem anderen Blatt – es soll ja auch noch andere geben. Dies sind Passagen, die deutlich machen, daß die Autoren nicht wirklich mit jenen übertrieben durchschnittlichen Leisetretern in eins zu setzen sind, die bei ihnen als Roman-Ich figurieren.

„Ich kapierte nichts von dem, was geschah, saß wie so oft in meinem Leben auf dem Rücksitz und sah zu, wie jemand anderes fuhr.“

Wo ein Michel Houellebecq aber ohne Rücksicht auf Verluste geradezu verstörend ehrlich ist, die Erlebniswelt des Spätkapitalismus als das schildert, was sie zunächst einmal in ihrer sinnlichen Konkretion ist – nämlich vor allem langweilig und in ihrer zwanghaften Wiederholungsträchtigkeit des Immergleichen komplett wahnsinnig –, da neigt Gassmann in allzu klischeehaften Kolportagen gelegentlich zu einem Sarkasmus, der die Houellebecqsche Subtilität nicht, dafür beinahe Schenkelklopfertum erreicht. Da fallen Wörter wie „Motztussi“ und volkstümliche Sätze wie „Der eifrigste internationale Informationssammler sind die U.S.A.“ (sic). Bei einem Bordellbesuch sind die Wände des „klein[en] und kahl[en]“ Zimmers, „in dem wir unseren Akt vollziehen mußten“, natürlich behangen mit „mit Reißnägeln befestigte[n] Doppelseiten aus Pornomagazinen. Die meisten von ihnen waren vergilbt.“ Das zugehörige Kapitel trägt den verunglückten Titel „Uff, knuff, puff, immer feste druff“ – was dem Abschnitt adäquat wäre, wenn sich an die klischeeüberladene Darstellung des gekauften Sex nicht noch geistreiche Reflektionen anschließen würden, die höchst lesenswert sind. Überhaupt schlägt sich Glaser/Gassmann souverän in der Houellebecqschen Disziplin, auf nüchternste Schilderungen seiner Umwelt mehr oder weniger subtile, „grüblerische“ Geistesexkurse folgen zu lassen und umgekehrt. Vielleicht ist ja wirklich ein guter Dialektiker am Philosophen verloren gegangen.
Der Befund des allzu Klischeehaften trifft v.a. auf die Schlußpassagen zu, die so absurd action-überladen sind, daß sie den Roman unnötig ins Aberwitzige abgleiten zu lassen drohen. Vermutlich ist dies aber der bitteren Not geschuldet, daß das deutsche Publikum derartiges goutiert; schließlich konnte dieses Land nie einen Houellebecq hervorbringen, ebensowenig einen Truffaut, Eustache oder einen John Peel. Hierzulande hat es, seit man die Mela Hartwigs, Tucholskys und Freuds erfolgreich in die Flucht geschlagen hat, immer nur zu Rühmännern, Schlingensiefs, Walsern und dem Traumschiff Surprise gereicht.
In den besten Momenten gelingt es Gassmann aber doch, die Alltagswirklichkeit v.a. auch der sog. Berufswelt in ihrer Trockenheit einzufangen, durch scharfe Beobachtungsgabe zu sezieren und mit kritischer Selbstreflektion zu durchtränken. Eine Trockenheit, die nicht mit Zynismus zu verwechseln ist, einer Gesellschaft angemessen, die sich in der geschäftigen Exekutierung eines absurden Selbstzwecks erschöpft. Implizit erreicht er dann die subversive Klarsicht, die auch Houellebecq auszeichnet, der von feuilletonistischen Moralisten noch immer ein Reaktionär und Gegenaufklärer geziehen wird, als wolle er hinter die bürgerliche Gesellschaft und Sexualökonomie zurück anstatt über sie hinaus. All das sind natürlich Projektionen von interessierter Seite.
Manchmal wird Gassmann regelrecht lustig. Ein Humor allerdings, der nicht fett, laut und schneidig ist wie der eines Harald Schmidt oder seines Juniorpartners Stefan Raab, sondern dem es durchaus gelingt, Wahrheit zu transportieren. Prächtig amüsieren kann man sich v.a. in den köstlichen Beschreibungen des Vorgesetzten von Arnold Glaser: eine tragikomisch-cholerische Witzfigur, ein Prachtexemplar aus dem Neurosenkabinett der Informationsgesellschaft, dessen Leben sich – mit schwindendem Erfolg – darin erschöpft, zwischen den Polen Arbeitswelt und Fitneßstudio zu mäandern. Seine aus sexueller Frustration gespeiste, längst krankhafte Eifersucht auf gestähltere Platzhirsche als ihn selbst ist ein gelungener running gag des Buches, um so mehr, als er doch stets den souveränen Chef und Gönner, den Mann der social skills zu spielen bemüht ist. Auf einer Betriebs-Weihnachtsfeier eskaliert dieser Humor geradezu im besten Sinne.

„Ich wünschte, ich wäre so dumm wie alle anderen Frauen. [...] Wenn ich dümmer wäre, müsste ich weniger leiden.“
(„Autobiografie einer Heizung“, Knarf Rellöm 1997)

Höchst redlich ist die mit ein wenig Neid versalzene, aber von Haß meilenweit entfernte Verachtung, die Gassmann wie sein Lehrer Houellebecq für all die Subjekte aufbringt, die positiv darin aufgehen, was doch objektiv nichts als Zumutung ist. Der Klappentext nennt sie Glasers „Mitmenschen“.
Die Gedanken von Glaser sind nicht „kraß“, „abseitig“ oder „krank“, sie sind vor allem nachvollziehbar; mal trivial, mal geistreich. Er ist nicht neurotischer als die ihn umgebenden Menschen, nur auf andere, distanziertere Art. Er ekelt sich vor der Normalität, ohne ihr doch entkommen zu können. Das ist nicht persönliche Verrücktheit oder Verschrobenheit, sondern vor allem objektiv traurig. Formuliergewaltig eine Zeile zum familiären Weihnachtsfest: „Ein toter Baum stand in der Ecke, war geschmückt und nadelte.“ Houellebecq lesen ist wie Bohren hören. Gassmann lesen ist wie Mutter hören.

„Auffällig übrigens, daß es kein deutsches Wort für Onenightstand gibt.“