rescue, reproduce, replay - zur Notwendigkeit freier online-Archive

ID 51179
 
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Der Beitrag kritisiert historisch und aus technischer Sicht das Konzept eines 'geistigen Eigentums' und argumentiert fuer die Notwendigkeit frei zugaenglicher online-Archive. Der Text basiert auf einem Vortrag der im Rahmen der Vorbereitung der 'Archivia 12' in Linz gehalten wurde.
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11:00 min, 15 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.10.2012 / 11:57

Dateizugriffe: 775

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Religion, Kultur, Politik/Info
Serie: mikro.FM
Entstehung

AutorInnen: j wilms
Radio: FRO-Linz, Linz im www
Produktionsdatum: 04.10.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
rescue - reproduce - replay: zur Notwendigkeit frei zugänglicher online-Archive

von johannes wilms, colaboradio, Berlin

<motto1>"sich mitzuteilen ist Natur", J.W. Goethe</motto1>
<motto2>"Ja?" Alexander Kluge</motto2>

Als <i>Gedächtnisorganisationen</i> (vgl. http://www.collaboratory.de/w/Datei:Beri... p. 57ff.) der jüngeren Menschheitsgeschichte geben Archive ein reichlich universales Thema ab.

Was wir - "wir" im Sinne einer technisch, einer medial organisierten Menschheit - gerade erleben, erscheint wie die neuere Geschichte im Zeitraffer. Wie im <i>fastforward</i> einer Bandmaschine rasen die letzten 500 Jahre des Kapitalismus, die Hauptkonflikte und Widersprüche von 500 Jahren Kapitalakkumulation und -zirkulation vorbei. Sei es beim Thema "geistiges Eigentum", beim Thema Banken, sei es im Hinblick auf Lizensierung und Nutzung von Monopolen, von Schürfrechten und <i>Inselstreitigkeiten</i>, von Zentralisierung und Macht, Zensur - eine Wiederholung <i>auf speed</i>, gegeben als ein in Medien gekleidetes Kostümfest des Weltgeists. (Sie wissen schon: Geschichte wiederholt sich nicht, und wenn dann nur als Farce, wie Hegel vergessen hatte, irgendwo zu bemerken; nun Marx' "der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" bleibt ein erstaunlich aktueller Text).

In den entwickelten Ländern tauchen dabei zur Zeit zwei Konfliktfelder auf, die in den Tigerstaaten wiederum nicht oder nur wenig vorkommen: einmal die wahlweise als Staatsverschuldung oder als Schuldenkrise drapierte Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums und zum anderen die in 'Urheberrechtsdebatten' verdampften Verwertungsinteressen der Inhaber von <i>intellectual property</i>. (Wer jetzt den guten Proudhon aus dem Keller seiner/ihrer versandeten Bibliothek hervorholt, und akzentarm aber gut vernehmlich: "la propriété intellectuelle c'est le vol intellectuel" sagt, bekommt bis zum Ende des Beitrags hoerfrei;)

Ansonsten ist die Erfindung eines 'geistigen Eigentums' im 19. und 20. Jahrhundert wahrscheinlich so originell wie es im 15. und 16. die Erfindung von Monopolbriefen und im 17. und 18. Jahrhundert die des Papiergelds gewesen war - über das Marx im Kapital schreibt: “Um dieselbe Zeit, wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen.” (mew23, 783) Nun gibt es heute einige, die sogenannte <i>Raupkopierer</i> vielleicht nicht gleich hängen würden, die in sogenannten <i>Urheberrechtsverletzungen</i> aber ähnliche Verbrechen sehen, wie ihre Ahnen im 17. und 18. Jahrhundert im Nachahmen des physikalischen Trägers von virtuellem Reichtum: <i>Papiergeld</i>.

Das alles zu einer Zeit, wohlgemerkt, da Kopieren und drucken “in” war: allein zwischen 1760 und 1780 entstanden im deutschsprachigen Raum ca. 300 Logen und noch einmal ca. 300 Lesegesellschaften; in dieser Zeit kamen massenhaft Bücher auf die Märkte, die in Mantel- ja sogar Jackentaschen passten; und obwohl oder gerade weil die meisten Bücher, die damals zirkulierten, nach heutigen Maßstäben 'Raubkopien' waren - waren sie Ausdruck einer Blüte des Buchdrucks und Buchhandels, der seinerseits maßgeblich zur Literarisierung beträchtlicher Teile der Bevölkerung beitrug. Mit Bücherwaren (Aufklärung und Unterhaltung) war gut Geld machen, <i>vor<i/> der Einführung der Titulargewalt 'geistiges Eigentum' (s. hierzu: das Interview mit Eckhard Höffner, http://www.heise.de/tp/artikel/33/33092/...), und wahrscheinlich hätte es weder die Leser/innen noch die Autoren der Weimarer Klassik gegeben ohne die Raubdrucke des 18. Jahrhunderts.

Die Autoren des pirate cinema berlin sahen 2004 im <i>filesharing</i> eine nachgerade zivilisatorische Volte: “was die Filmindustrie derzeit so sehr in Panik versetzt, ist weniger die Befürchtung, die Zahlungsmoral ihrer Kundschaft nehme durch das massenhafte Rauf- und Runterladen digitaler Filmkopien Schaden, als vielmehr die Aussicht auf einen gesellschaftlichen Zustand, in dem Millionen von Menschen über Bilder verfügen und diese selbst zu Filmen zusammensetzen, in denen etwas sichtbar würde, das sich weder absehen noch kontrollieren liesse” http://berlin.piratecinema.org/screening...

Wo "piracy" drauf steht, ist also oft "e-literacy" drin. Wahrscheinlich gibt es in Österreich und im Rest von Europa mehr Computer als Automobile. Und die Zahl derer, die auch nur rudimentär mit einem Computer, einer <i>playstation</i> oder wenigstens mit einem Mobiltelefon umgehen können, dürfte inzwischen so gross sein, wie die Zahl derer, die überhaupt lesen und schreiben können. Dennoch gibt es allerorten, in allen Schichten, Klassen und Altersgruppen einen Grad von Beschränktheit, der die Nutzung der Univeralmaschinen <i>computer</i> begleitet und die sich, bestenfalls, im Begriff “USER” wiederspiegelt, dass die Forderung nach einer emanzipierten Medien-_aneignung_ nicht hoch genug gestellt werden kann. E-literacy wäre also eines der berühmten Gebot der Stunde - und zwar rund um die Uhr.

Zur e-literacy gehört, über Produktionsmittel (z.B. Laptop, Software) verfügen zu können und: über Material, über <i>content<i/>. <i>Das Internet</i> erscheint hier, zunächst, als eine ungeheure contentsammlung, der online-Archive prominent angehören. In einer "Reihe von Behauptungen" schrieben die Autoren des piratecinema, Berlin, 2004:

dass Archive keine Privatangelegenheit sind, sondern öffentlich und damit produktiv gemacht - sowie massenhaft verteilt und gespiegelt - werden müssen  

-dass Archive keine Privatangelegenheit sind, sondern öffentlich und damit produktiv gemacht, sowie massenhaft verteilt und gespiegelt - werden müssen   

- dass es ein selbstverständliches Recht zu kopieren und kopiert zu werden gibt,
das jedes Urheberrecht ausser Kraft setzt und auf das sich jeder berufen kann 
 
- dass es Formen von Produktion gibt, die nicht erst beim Gewerbeaufsichtsamt,
bei der Gema oder bei der Kulturstiftung des Bundes beantragt werden müssen   
                                                                                
- dass die Filesharing-Netzwerke in den letzten Jahren zum grössten, besten und 
am einfachsten zugänglichen Filmarchiv der Menschheitsgeschichte geworden sind

- dass Filesharing eine der am wenigsten aussichtslosen, regressiven oder in 
ihrem eigenen Bild restlos aufgehenden sozialen Bewegungen der Gegenwart ist  

- dass der Krieg gegen Piraterie wie der gegen Drogen und der gegen Terror nicht
geführt wird, um gewonnen zu werden, sondern allein, um geführt zu werden 

- dass Copyrights keine Frage der Gesetzgebung, sondern der Rechtsprechung sind,
und es daher nicht um Prinzipien, sondern um das Herstellen von Fällen geht   

Wiewohl filesharing gegenüber zentralisierten Diensten wie <i>youtube</i> an Terrain verloren haben dürfte und wiewohl diese 'Behauptungen' vor gut 7 Jahren geschrieben worden sind, zeigen sie doch eine verblüffende Aktualität - vielleicht gilt hier, was Horaz allgemein über gute Texte schrieb: dass sie sieben Jahre liegen bleiben müssten, bevor ihre Verfasser wüssten, ob und wie gut sie seien; apropos Horaz und <i>Weltkulturerbe</i>: Das Internet bietet die technologischen Voraussetzungen, das Weltkulturerbe in so mannigfacher Weise abzubilden, dass wir noch nicht einmal einen Begriff davon haben, wie - auch nur in 10 Jahren - aussehen könnte.

Die negative Utopie wäre jedenfalls ein Internet, das keins mehr ist, weil ein ähnlicher Grad von Zentralisation erreicht wäre, wie bei anderen elektronischen <i>one to many<>/i Medien auch, - wenn das Internet ein raffiniertes Fernsehen <i>on demand</i>, wenn ein web 3.0 mit einem tv 2.0 identisch geworden ist. Angesichts dieser schlechten Vergesellschaftung erhellt, warum der Erhalt und der Ausbau dezentraler, unabhängiger Infrastrukturen so wichtig geworden ist.

Zwar hat das sogenannte Web 2.0 zu einer Vermassung contributiver Formen der kulturellen Produktion geführt, aber eben auch zu einer ungeheuren Zentralisierung der Dienste und Marken (in alphabetischer folge: amazon, facebook, google, twitter, ustream, yahoo, youtube). Wobei zur jüngeren Geschichte der politischen Ökonomie des Internets auch die Zentralisierung der technischen Infrastrukturen selbst gehört. (D.h. die Konzentration, wo nicht Oligopolisierung der ISP's; ganz zu schweigen vom sog. 'Mobilfunkmarkt', der nie nennenswert diversifiziert war).

Wenn in der herrschenden Tendenz die dezentrale Anlage von online-Archiven schon nicht technisch geboten scheint, so doch wenigstens die Redundanz der Datenspeicher. Redundanz ist das Mantra der Ausfallsicherheit, quelloffene Formate (z.B. ogg-vorbis oder, neuerdings, ietf) das einer für Archive unbedingt gebotenen Nachhaltigkeit: Dezentralisierung, Redundanz und Quelloffenheit sind also sozusagen die Troika einer demokratischen und ökologischen Nutzung von Archiven im Internet.

Vor diesem Hintergrund wird spannend sein, zu fragen, wie es mit dem Wissen und den Künsten ausgehen wird in Zeiten, in denen in einem bis vor kurzem unvorstellbarem Maße, digitale Produktionsmittel in die Hände der Massenkultur geraten sind und ihrer emanzipatorischen Aneignung harren.

Der 'Kampf um's Urheberrecht' (wetterfrosch, in Datenschleuder 20, ccc.de) fällt hier als ein Kampf 'avant la lettre' aus, denn es geht - wie Thomas Diesenreiter vom CBA anlässlich der 'archivia' bloggte - um nicht weniger als die Frage, "nach welchen Regeln wir unser Wissen erzeugen, archivieren und wieder weitergeben." (diesenreiter.at/archivia2012)

Kommentare
04.10.2012 / 17:21 safdi, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
lief bei bermuda.funk
in sonar am 04.10.12. Danke!
 
26.10.2012 / 11:14 Raffaello, radio flora, Hannover
Gesendet bin der Sendung Die Technik schlaegt zurueck
Danke!