"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Sozialdemokratismus

ID 82449
 
AnhörenDownload
Wenn nicht alles täuscht, wird bei den Bundestagswahlen im Herbst Frau Merkel den Sieg davon tragen mit leichten Verlusten für die CDU, leichten Gewinnen für die SPD, die AfD wird es wohl trotz allen Bemühungen nicht schaffen, bis dahin unter die 5-Prozent-Hürde zu fallen und die FDP wird es trotz allen Bemühungen nicht schaffen, diese Hürde zu überwinden.
Audio
11:29 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 11.04.2017 / 10:26

Dateizugriffe: 2060

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Religion, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 11.04.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Linke verharrt in etwa auf ihren Positionen, und bei den Grünen weiß man nicht so recht, wie das Demokratie-The­ater­publikum die Leistung dieses unfassbar schlechten Schauspielers Cem Özdemir honorieren wird; von einem politischen Programm habe ich bei diesem Verein seit einiger Zeit nichts mehr gesehen, ganz im Gegensatz zu Martin Schulz, der wenigstens die alten Grundsätze der Sozial­de­mo­kratie wieder hoch leben lässt, während eben die Linke von den ihrigen gar nie so richtig abge­rückt ist.

Die Kraft des allgemeinen Verlaufs verläuft also kräftig in Richtung einer Neuauflage der großen Koalition, was aus dem einen Grund folgerichtig ist, dass die beiden großen Parteien, einmal abgesehen von der Programmrhetorik, eine Politik betreiben, die bis auf ein paar Nuancen radikal deckungsgleich ist. Das kann man ihnen nicht mal zum Vorwurf machen; wie sollte man denn auch die anstehenden Fragen beziehungsweise die Aufgaben im Alltag anders lösen denn auf jene Art, welche im Rahmen der Gesetze und der moralischen Leitplanken einigermaßen vernünftig sind? Die staatliche Realität ist eine sozialdemokratische, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Nachbarstaaten; selbstverständlich unterscheiden sich die Nationen in der konkreten Ausformung der sozialdemokratischen Gegenwart, und sie unterscheiden sich auch im Grad an Nationalismus, den sie dabei an den Tag legen, aber grundsätzlich lehnt niemand den minimalen sozialen Aus­gleich und die Orientierung an geltendem Recht und an den international anerkannten Grund­sät­zen ab, wenn man mal die Versuche der Nationalisten ausnimmt, welche die eigenen Staatsbürger als bessere oder mindestens besser gestellte Menschen ins Gesetz fassen wollen und es zum Teil auch tatsächlich tun. Daneben aber kann man sich sogar in der Türkei umschauen und stellt fest, dass die AKP zentrale Elemente des Sozialdemokratismus in die Praxis umgesetzt hat, egal, ob im Bereich Infrastrukturen, Bildung oder bei der Krankenversicherung. Die einzige mir bekannte Ausnahme ist Weißrussland, welches neuerdings eine Strafsteuer abzockt von Menschen, die weniger als 180 Tage im Jahr gearbeitet haben, aber das ist nichts anderes als eine groteske Verzerrung eines an­sonsten allgemein anerkannten Grundrechtes auf Existenz.

Was mich bei der kommenden großen Koalition ein wenig irritiert, ist die Stellung Deutschlands innerhalb der EU. Anerkanntermaßen spielt euer Land seit einigen Jahren die wirtschaftliche und dementsprechend auch politische Führungsrolle. Die gemurrte und gemurmelte Kritik lautet in der Regel so, dass Deutschland von der EU am stärksten profitiere. Wenn nun neben der bekennnden Europäerin Frau Merkel auch noch der ehemalige Präsident des EU-Parlamentes mit seinem Netz­werk aus dieser Zeit auf deutscher Seite in den EU-Prozess eingreift, so werden dies verschiedene Mitgliedländer so interpretieren, wie ich die Dienste der Goldman-Sachs-Brühwurst José Manuel Barroso einstufe, nämlich als eine Sichtbarwerdung deutscher Arroganz und deutschen Macht­inter­esses. – Allerdings muss man das nicht so ernst nehmen, wie es im öffentlichen Diskurs tönen wird, denn die meisten EU-Mitglieder zählen darauf, dass sich die deutsche Regierung aus purem Eigen­interesse zurückhalten wird; sonst würden die Grundlagen für ein gemeinsames Europa tatsächlich so schwach, wie man es zum Teil schon heute darstellt nach dem Abgang beziehungsweise nach der Einleitung des Abgangs der Engländerinnen und Engländer. Aber dies steht nach meiner Ein­schät­zung nicht auf dem Programm, weder für heute noch für morgen noch für übermorgen.

Während ihr im Herbst dann wählt, schickt sich der Russe an, den 100. Jahrestag der Oktober­re­vo­lution zu feiern. Soweit ich informiert bin, hält sich die Begeisterung in Grenzen, mindestens von Seiten der Regierung, und so haben wir eine neue Gemeinsamkeit: Während sich auf der weltpolitischen Ebene die europäische nationalistische Rechte über den starken Mann Wladimir Putin freut, was mir nur schon angesichts dessen pur infantiler Posiererei ein Rätsel ist, während ich andere Abteilungen seiner Politik dann wieder besser verstehe, aber wie auch immer: Während also die nationalistischen Bewegungen in Europa dem russischen Nationalisten Putin zujubeln, der al­lerdings aus ganz anderen Beweggründen und in einer ganz anderen Situation nationalistisch ist als die europäischen Nationalisten, aber eben, und ich versuche es jetzt zum dritten Mal: Während also die Rechtsnationalisten in Europa sich als zurückgebliebene Infantilisten entpuppen, werfen sich ihm anlässlich des Revolutionsjubiläums auch jene Kreise an den Hals, welche die russische nicht als russische, sondern als kommunistische Revolution seit eh und je verdammt haben, unge­achtet allfälligen historischen und zeitpolitischen Kontexts. Früher bildeten die glühenden Anti­kom­mu­nisten noch eine Phalanx mit den glühenden Rechtsnationalisten, jetzt dagegen sind ihre Ge­mein­samkeiten eher zufällig, eben anhand der sozialistischen Oktoberrevolution. Die Anti­kom­mu­nisten sind die Nachfahren der preussischen Junker und der Großindustrie, welche auch heute noch von rechtlosen Landarbeitern und Billigarbeitskräften träumen, die in den Betrieben und in der Ge­sellschaft nichts zu mucken haben. Diese Verhältnisse nämlich wurden von der Oktober­re­vo­lution hinweg gefegt. Dass diese Revolution dann nicht so herausgekommen ist, wie man es sich anfangs gewünscht hatte und wie es später in der Sowjetunion immer wieder dargestellt wurde, hat ver­schiedene Ursachen, unter anderem der massive Bürgerkrieg, der umgehend einsetzte, aber selbst­verständlich auch den vollkommenen Mangel an Erfahrung und an Praxiswissen, vor allem in wirtschaftlichen Belangen. Eine schöne Theorie von der Umkehrung der Klassenverhältnisse bis zum Absterben des Staates im Kommunismus aufzustellen ist eine Sache, die Einrichtung einer Wirtschaft, welche das ganze Land mit den notwendigen Gütern versorgt, eine durchaus andere, und das haben die Revolutionäre dann auch relativ bald eingesehen und die sogenannte neue Wirtschafts­politik eingeführt. Dass aber zu diesem Zeitpunkt oder noch besser: von allem Anfang an die Entwicklung logisch und zwingend in Richtung Stalinismus verlaufen würde, ist eine grobe Verzerrung, welche sich durch den antikommunistischen Reflex der alten Reaktionäre erklären lässt, die aber mit der historischen Wahrheit nichts zu tun hat. Zu Stalin braucht man sich tat­säch­lich nicht weiter zu äußern; der Hinweis darauf, dass wohl kein Mensch in der ganzen Geschichte mehr Kommunisten hat umbringen lassen als der Dschugaschwili, muss hier ausreichen. Aber den Bürgerkrieg gegen die weiße Armee hat damals eben nicht der Stalin gewonnen, sondern ein anderer bekannter Revoluzzer, nämlich der Trotzki. Der hat dann in der Folge und vor allem nach Lenins Tod den Kürzeren gezogen gegen Stalin, aber an seiner Figur lässt sich zeigen, dass die Entwicklungen in den sieben Jahren nach der bolschewistischen Revolution eben deutlich viel­schichtiger liefen, als es den verbohrten Antikommunisten in den Kram passt.

Ich habe den Eindruck, dass diese Sorte an Reaktionären mehr oder weniger am Aussterben ist. Heute fasst man auch eine Revolution mehr oder weniger als einen weiteren Event unter anderen auf, nicht zuletzt deshalb, weil kein neues Automobilmodell auf den Markt kommt, ohne dass es wegen seiner revolutionären Eigenschaften angepriesen wird. Daneben hat sich das Wissen wohl verfestigt, dass in der Entwicklung der Menschheit tatsächlich verschiedene Revolutionen stattgefunden haben, unter anderem die französische, über welche sich übrigens die Anti­kom­mu­nisten ebenfalls immer fürchterlich aufregen, vordergründig, weil da Blut geflossen ist, in erster Linie aber wegen der Tatsache, dass die Menschen es zu diesen Zeitpunkten gewagt haben, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und eine gottgewollte feste Ordnung zu stürzen. Dabei zeichnet sich doch gerade jenes System, in welchem wir leben, durch die permanente Revolution aus, vielleicht nicht vor allem im politischen Bereich, wo sich, wie eingangs erwähnt, das sozialdemokratische System als das zeitgemässe fest etabliert hat, aber doch immerhin im wirtschaftlichen und auch im sozialen Bereich. Die Umwälzungen der letzten fünfzig Jahre sind derart enorm, dass es einen eigentlich fast blenden muss, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie alle mehr oder weniger friedlich über die Bühne gegangen sind. Vor allem die Umwandlung von einer Industriegesellschaft mit den Wachstumsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg in eine moderne Digitalgesellschaft. Wirtschaftlich gesehen haben wir tatsächlich verschiedene Revolutionen erlebt, aber auch im Zusammenleben haben sich die über Jahrhunderte geltenden festen Werte verschoben, aufgelöst oder sind ganz verschwunden. Nur die Verteilung des Reichtums bleibt sich in etwa gleich, wenigstens an dieser Konstante kann man sich noch orientieren, wenn man sich weiterhin als kritischer Geist betätigen will. Aber in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen bis hin zu den untersten Schichten hat sich viel getan. So viel, dass im Moment nicht mal eine ordentliche soziale Analyse vorliegt, welche es erlauben täte, die Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft für die nächsten zwanzig oder fünfzig Jahre zu definieren. Denn darum geht es: Wenn wir den Reichtum der obersten Fünftausend zerschlagen oder auf die ganze Gesellschaft aufteilen, haben wir immer noch keine Ahnung, was wir damit sollen. Biertrinken ist in Ordnung, aber das wird ja nicht das Ende der gesellschaftlichen Entwicklung sein. Ohne solche Vorstellungen aber kann man nicht wirklich Politik machen. Das ist auch das Problem beim Sozialdemokratismus: Er hat sich erfüllt, er ist derart umfassend Realität geworden, dass ihm kein Fünkchen Zukunft mehr inne wohnt. Man kann, wie eben der Genosse Martin Schulz, noch einmal die alten Heuler vom sozialen Zusammenhalt und so weiter hervorholen, und man liegt damit mit Sicherheit nicht falsch; aber was die Zukunft anbelangt, so liegt man damit in erster Linie nicht richtig, denn der sozialdemokratische ist der Ist-Zustand, nicht jener, für den es sich zu kämpfen lohnt.

Wir könnten zum Beispiel alle zum Islam konvertieren. Der Islam hat sich seit 16 Jahren als Hauptströmung des Antiimperialismus etabliert, das ist mit Sicherheit der zentrale Grund für seine Erfolge bei den unterprivilegierten Schichten und Personen in Europa. Dass er am erfolgreichsten ausgerechnet bei Kleinkriminellen ist, mit dieser Pointe war nicht unbedingt zu rechnen, aber die Weltgeschichte leistet sich nun mal hin und wieder einen Scherz. Wenn es also allein um Antiimperialismus ginge, dann müssten wir tatsächlich auf Allah und seinen Propheten Mohammed setzen. Ich selber bin dazu nicht in der Lage. Meiner Ansicht nach ginge es heute darum, auf der Grundlage einer vollkommen gesicherten und ausreichenden Versorgung aller Menschen mit den Gütern des täglichen Bedarfs einen Schritt vorwärts zu tun auf einer oder auf mehreren anderen Ebenen. Auf einer Ebene, wo die Fähigkeiten und die Eigenschaften der einzelnen Menschen angesprochen werden. Wo die Menschen befähigt werden, mehr zu tun, mehr zu denken, aber auch mehr zu genießen, als was sie im Moment tun. Was die Voraussetzungen hierfür sind und wie man die entsprechenden Institutionen schafft, das wäre für mich der Inhalt eines neuen Programms, das über die Sozialdemokratie hinaus geht.