"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Blutwerte

ID 85367
 
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Ein Bekannter von mir lässt sich von einem digitalen Spielzeug alle möglichen Informationen zu seinem eigenen Körper aufzeichnen, wieviele Schritte dieser Körper am Tag getan hat, welcher Puls dabei auftrat, die Körpertemperatur, und er freut sich ganz besonders auf jenen zukünftigen Mo­ment, da sein Spielzeug auch noch alle Blutwerte erfassen kann.
Audio
11:56 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.10.2017 / 12:22

Dateizugriffe: 2851

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.10.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Gegenwärtig tauscht er sich be­zie­hungsweise seine Informationen noch mit ein paar Freunden und Bekannten aus, wobei ich nicht ganz nachkomme, denn meine Vorstellungskraft reicht einfach nicht aus, um mir die entspre­chen­den angeregten Gespräche am Telefon auszumalen; dagegen habe ich kapiert, worauf das Ganze dann hinauslaufen soll, nämlich werden zukünftig die Blut- und überhaupt Gesundheitswerte regel­mässig, was heißt da regelmässig: in Echtzeit natürlich einem zentralen Gesundheitscomputer zuge­stellt, welcher damit in die Lage versetzt wird, meine Erkältung von übermorgen schon vorgestern frühzuerkennen und ihr heute vorzubeugen. Und selbstverständlich geht es nicht in erster Linie um meine Erkältungen, sondern um Brust- und Prostatakrebs, Alzheimer und Leberversagen. Das sei ein Quantensprung für die Medizin, meint mein Bekannter und schiebt alle Einwände bezüglich Vorbehalte von Seiten der Kran­kenversicherung, Prämiendifferenzierung nach Gesundheits­pro­gno­sen und Leistungs­einschränkungen mit einem Achselzucken weg. Damit hat er meiner Ansicht nach sogar recht, denn die Krankenkassen kann und muss man ganz einfach von Gesetzes wegen zur Erbringung der notwendigen Leistungen zwingen, wie dies ja heute schon der Fall ist; und wenn der Begriff Kassenpatient unterdessen zu einem Schimpfwort geworden ist, dann liegt das an der lau­si­gen Umsetzung eines an und für sich vernünftigen gesetzlichen Auftrages. Wie übrigens bei manch anderen Dingen auch, nehmen wir nur einmal die Demokratie, welche auch an und für sich ein ver­nünf­tiges System ist, das sich aber nur dann korrekt umsetzen lässt, wenn die Subjekte der Demo­kratie, also die Bevölkerung, auch über die notwendigen Qualifikationen für dieses System ver­fü­gen, namentlich über einen Denkapparat zwischen den Ohren, welcher seinen Namen verdient. Aber zurück.

Die Vorstellung einer allgemeinen Online-Gesundheitsüberwachung widerstrebt mir, zunächst aus recht irrationalen Gründen, indem es rational lauten müsste: Die möglichst frühe Erfassung solcher Informationen ist doch nur gut, für mich ebenso wie für den gesamten Gesell­schafts­körper, es ist im allgemeinen Interesse, wenn mögliche Krankheiten und in einer späteren Phase sogar genetische De­fizite oder Defekte möglichst flächendeckend erkannt und in Echtzeit behandelt und korrigiert werden. Auch bei angestrengtem Nachdenken komme ich nicht darauf, wie ich grund­sätzlich ein Recht auf ansteckende Krankheiten verteidigen könnte. Jene Instanz in mir, wel­che sich dagegen sträubt, wehrt sich allerdings nicht gegen die Bekämpfung ansteckender Krank­hei­ten, einmal abge­sehen davon, dass wir bei der Bekämpfung ansteckender Krankheiten schon soweit ge­kom­men sind, dass unsere Kinder keinerlei Abwehrkräfte mehr entwickeln auch gegen die sim­pels­ten Er­re­ger, sodass bald auch ein einfacher Husten eine tödliche Gefahr für so ein zartes Geschöpf dar­stel­len muss, von der Masern-Pandemie, welche jedes Jahr ganze Generationen von Neu­ge­bo­renen dahin rafft und deshalb bekämpft beziehungsweise beimpft werden muss, schon gar nicht zu spre­chen und auch nicht von jener umfassenden Vorsorge für die Beinhäuser ebendieser Neu­ge­bo­re­nen in einem etwas späteren Lebensalter, welche man dringend mit einem Kopfhelm schützen muss, denn sie könnten ja irgendwann mal auf einen Bordstein purzeln. Nein, diese Instanz be­haup­tet einfach, dass meine Gesundheit und somit auch meine Krankheit letztlich mir gehöre und nicht der Gesellschaft. Mein Bauch gehört mir, meine Damen und Herren! Es gibt ein grundsätzlich intaktes System der Gesundheitsversorgung, dem ich mich in der Regel bedenkenlos anvertraue in der Form meines Hausarztes und der zuständigen Spezialistinnen und Spezialisten in den Spitälern, falls mal was sein sollte, da brauche ich doch nicht einer zentralen Kontrollinstanz jederzeit meine Blutwerte und Körpertemperaturen zu übermitteln. Dass damit irgendwelche künftigen Krebserkrankungen rechtzeitig diagnostiziert und therapiert werden können, erscheint mir beziehungsweise jener Instanz in mir, die sich dagegen sträubt, als Vorwand für etwas anderes, nämlich für die Ver­voll­stän­di­gung meiner nicht nur Kranken-, sondern der Existenzakte und somit der allgemeinen Kontrolle über mich. Das ist für jene Instanz in mir, welche weiß, dass ich mich ja schon selber kaum unter Kontrolle habe, ziemlich unangenehm.

Auf jeden Fall ergänzen die Angaben zu meiner psychischen und physischen Gesundheit mein ohne­hin bereits vorhandenes digitales Profil, mein leider Gottes alter Ego, ohne dass ich das auch nur im Geringsten gewollt hätte, und das geht mir tatsächlich auf den Keks, und dort nicht nur auf die Nerven, sondern in erster Linie auf den Geist. Die vollkommene Abbildung meiner Person ent­spricht uneingeschränkt der vollkommenen Kon­trol­le über mich. Kontrolle heißt selbstverständlich nicht, dass man mir gegen meinen Willen etwas aufs Auge drückt, sondern Kontrolle bedeutet letzt­lich Bestimmung über meinen Willen. Der große Bruder ist selbstverständlich ein guter großer Bru­der, dem es nicht im Traum in den Sinn käme, mir etwa das Lesen zu verbieten, und in erster Linie würde er nicht die Lektüre gesellschafts­kri­tischer Texte verbieten, Gott bewahre. Was mich in einer Beobachtungshierarchie ein paar Stufen höher rutschen lassen würden, wären, neben erkennbar kri­mi­nellen Absichten, allfällige Versuche, die Macht und die Mechanismen der Kontrolle zu er­for­schen, aber auch damit kann sich eine moderne sozialdemokratisch genormte Gesellschaft durchaus einrichten, man muss niemandem den Kopf geradewegs abschlagen, man sollte ihn nur schützen.

Was kann man denn tun gegen die in vollem Gang befindliche Übernahme der Kontrolle durch die weltweit nicht zufällig teuersten Firmen, in Zusammenarbeit mit den Nationalstaaten? Keine Ahnung. Allenfalls traue ich dem Chaos Computer Club beziehungsweise den Hackern, mindestens den unabhängigen Hackern noch einen gewissen Widerstand zu, aber sonst... Sonst beschränke ich mich darauf zu überlegen, ob dies nun die große Frage unserer Zeit sei und nicht etwa die oft ge­nannte soziale Frage, deren konkrete Ausformulierung sowieso niemand mehr schafft über die seit dreißig Jahren immer gleichen Formeln und Floskeln hinaus. In dieser Beziehung, also bezüglich der Digitalisierung und der digitalen Kontrolle, weisen die unterentwickelten Länder der Dritten Welt wegen des anhaltenden Mangels an Institutionen, Strukturen und allgemeinem Wohlstand die größten Freiheiten auf. Die Individuen in Afrika werden zwar über ihre Mobiltelefone erfasst und begleitet, von der Registrierung etwa ihres Kaufverhaltens ist meines Wissens noch nicht die Rede. Bei uns dagegen sorgt der Sozialstaat zum einen, die sinkenden Produktepreise zum anderen für die flächendeckende Spiegelung aller Menschen, auch der armen. Weil die unterdessen nicht mehr so richtig arm sind, ein paar Ausnahmen einmal ausgenommen; ein menschenunwürdiges Leben führen die Armen heute nur dann, wenn man die Definition von menschenwürdig so zurecht biegt, dass sie zutrifft. Wie immer und überall ergänze ich hier gleich: Mit Gleichberechtigung oder Beteiligung an wesentlichen Entscheidprozessen hat das noch nichts zu tun; aber in Sachen Gleichberechtigung und Beteiligung an Entscheidprozessen müssen wir sowieso zuerst bei der breiten Allgemeinheit anfangen und nicht ausgerechnet bei den ärmeren Zeitgenossen.

Im Übrigen möchte ich nicht mit den Menschen auf dem afrikanischen Kontinent tauschen, nur damit ich nicht überwacht oder digital gespiegelt und kontrolliert werde, bewahre. Ich verweise auf diesen Umstand nur der Vollständigkeit halber und deswegen, weil die digitale Spiegelung offen­sichtlich ein Reichtumsphänomen ist. Da aber die Grundtendenz der modernen Gesellschaft tat­säch­lich nach wie vor in Richtung Reichtum läuft und nicht in Richtung Armut, dürfte auch die Tendenz bei der digitalen Kontrolle in Richtung Vervollständigung gehen.

Auf jeden Fall werde ich in absehbarer Zeit nicht darauf verfallen, mich mit meinen Freundinnen und Freunden auszutauschen über die Schrittzahlen der letzten fünf Tage oder über meine Pulsfrequenzen und Fieberkurven, was ja automatisch heißen müsste, dass ich mich mit den ihrigen beschäftige, und soweit vermag ich mein Einfühlungsvermögen einfach nicht auszudehnen. Vielmehr: Ich habe den Verdacht, dass diese Form des miteinander Teilens nichts anderes ist als eine Legitimation, sich auf diese ziemlich hölzerne Art und Weise mit sich selber zu beschäftigen. Da ziehe ich andere Formate vor.

Aber sprechen wir von etwas anderem. Offenbar wollen die Barzelonier nun jenes Versprechen einfordern, das sie sich selber anlässlich des Beitritts Spaniens zur EU gegeben haben. Damals ging man davon aus, dass die Grenzen der Nationalstaaten in den Hintergrund treten würden und dass Europa künftig ein Kontinent der Regionen sein werde und nicht mehr der Länder. Wie auch wir in der Zwischenzeit festgestellt haben, war diese Einschätzung nicht ganz korrekt, und jetzt muss der Katalone halt seinen Austritt aus Spanien geben, wobei meines Wissens die Ansichten im Nord­osten Spaniens durchaus geteilt sind, es ist also nicht so, dass neunzig unterdrückte Volksprozente einen Befreiungskrieg gegen König Philipp den Viertel-vor-Sechsten führen würden. Die empörte Feststellung, dass Katalonien viel mehr in den Staatshaushalt einbezahle, als es heraus erhalte, scheint mir gerade heraus einen feuchten Dreck wert zu sein – das ist nun mal die Regel nicht nur innerhalb von Staaten, sondern in sämtlichen Gemeinschaften, dass die Stärksten den höchsten Beitrag leisten, in Deutschland würde das für Bayern gelten oder für Baden-Württemberg, das ist doch einfach Blödsinn. Im Moment ist das einzige Argument für einen Austritt Barcelonas aus Madrid jenes, dass der Holzkopf Mariano Rajoy keine Worte des Mitgefühls gefunden habe anlässlich des Einsatzes von Polizeieinheiten zur Verhinderung einer nicht besonders legalen und zum Vornherein mit sämtlichen Formfehlern behafteten Abstimmung über die Abspaltung. Das scheint mir als Argument nun doch zu schwach zu sein. Was wollen die Katalanen eigentlich? Ihren Stolz demonstrieren oder ihre Identität? Dann wäre dies eine Sorte von Stolz und Identität, welche per Saldo zurückführt in jene Zeit, in welcher sich die Dörfer untereinander bekriegt haben. Diese Form der Freiheit und Befreiung geht mir einfach nicht in den Kopf, und ich bin auch nicht bereit, alle oppositionellen Bewegungen zum Vornherein gut zu finden, bloß weil sie oppositionell sind, man müsste dann doch auch noch ein paar zentrale Elemente sehen, welche in der Organisation oder in der Ideologie deutlich fortschrittlicher sind als die von Mariano Rajoy, und meiner Treu, davon sehe ich hier nichts. Gut, ich habe mich mit dem Thema auch nicht in der notwendigen Breite, Tiefe und Länge beschäftigt, aber aufgrund der mir zufließenden Informationen halte ich das vorderhand für rundum bekloppt.

Was ich vom Streik der Beamten in Frankreich am heutigen Dienstag halten soll, weiß ich noch nicht. Der Chef der Confédération française démocratique du travail CFDT, Laurent Berger, hat am Montag als Rechtfertigung für diesen Ausstand gesagt, dass unter den öffentlichen Bediensteten das Malaise weit verbreitet sei, dass man nicht mehr als wertvolle Stützen des Systems wahrgenommen werde, sondern nur noch als Budgetposten. Was soll man zu einer solchen Begründung sagen. Wo der Mann recht hat, hat er recht, aber weshalb er das auf den Staat einschränkt, bleibt uns verborgen. Gleichzeitig wissen wir, dass es nicht darum geht. Die Gewerkschaften fahren hier einen Testlauf, ob sie ihren bisherigen, manchmal recht eindrücklichen Einfluss auf die Regierung auch auf die Regierung Macron werden bewahren können, welcher ihnen mit der Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes schon mal ein paar Dämpfer aufgesetzt hat. Jetzt halten sie offenbar die Zeit für gekommen, der erste Schwung der Bewegung En Marche scheint verflogen, da formieren sich halt fast schon naturnotwendig die alten Kräfte wieder. Ich verstehe das zwar, aber lustig finde ich es nicht. In Frankreich sind die Gewerkschaften schon längst keine fortschrittlichen Kräfte mehr.

Kommentare
10.10.2017 / 21:53 Max, coloRadio, Dresden
Vielen Dank!
...gesendet an einem sonst freien Sendeplatz. :)