Ungewöhnliche Vehemenz: Thüringen und das Nachspiel

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„Es gilt, Dinge zu verstehen, die hier passieren“

EIN KOMMENTAR der Redaktion Sachzwang FM

Die parteipolitische Auseinandersetzung um das, was wahlweise das „Debakel von Thüringen“ oder „der politische“ oder „moralische Damm­bruch“ genannt wird, wird mit einer ungewöhn­lichen Vehemenz geführt. Symbolpolitik, könnte man meinen, aber diesmal ist es mehr: Die wohl­feilen Beteuerungen, mit der Höcke-Partei nicht gemeinsame Sache machen zu wollen, ha­ben sich bei den Rechtsliberalen von CDU und FDP als Makulatur entpuppt. Nun MÜSSEN sie so tun, als ob sie unschuldig in eine Falle getappt wären. Der angestammten Wählerschaft ist die Heuchelei nicht mehr so lange zuzumuten. Das antikommunistische Ressentiment der deutschen Mitte ist stärker als die antifaschistische Vernunft, allen neuerlichen Lippenbekenntnissen zum Trotz.

In Erwartung scharfer politischer Richtungs­kämpfe in Deutschlands größter und ewiger Volkspartei hat jetzt die Vorsitzende Kramp-Kar­renbauer klugerweise angekündigt, sich durch die zu erwartenden Gefechte nicht zermahlen zu lassen. Anders ist der Rückzug der Parteichefin kaum zu verstehen. Es muß aber auch höchst un­erquicklich sein, es einer teils linksliberalen Me­dienöffentlichkeit immer genauso recht machen zu wollen wie der eigenen, in großen Teilen la­tent rechts tickenden Parteibasis: ein orwellscher Spagat, eine Quadratur des Kreises. Mal gucken, wer so viel masochistischen Borderline-Eifer aufbringt, sich dies zumuten zu wollen.

Das zivilisierte, liberale, demokratische Selbstbild war und ist vor allem medial vermittelt. Die Rechte weiß das – und das ist ihre Trumpfkarte. DAHER kann sie so virtuos auf der Klaviatur der Andeutungen und Provokationen, der Intrigen und Skandale spielen, wie es der Linken in einem postfaschistischen Land wie diesem nie möglich war. Und daher hat man vor einem Überraschungscoup der Rechten – zurecht – viel mehr Angst als vor einem der Linken: er ist ungleich wahrscheinlicher.

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Upload vom 17.02.2020 / 09:19

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Arbeitswelt, Kultur, Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Redaktion Sachzwang FM
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 10.02.2020
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Vollständiger Wortlaut des Kommentars:

Ungewöhnliche Vehemenz. „Es gilt, Dinge zu verstehen, die hier passieren“

Die parteipolitische Auseinandersetzung um das, was wahlweise das „Debakel von Thüringen“ oder „der politische“ oder „moralische Damm­bruch“ genannt wird, wird mit einer ungewöhn­lichen Vehemenz geführt. Symbolpolitik, könnte man meinen, aber diesmal ist es mehr: Die wohl­feilen Beteuerungen, mit der Höcke-Partei nicht gemeinsame Sache machen zu wollen, ha­ben sich bei den Rechtsliberalen von CDU und FDP als Makulatur entpuppt. Nun müssen sie so tun, als ob sie unschuldig in eine Falle getappt wären; gut, daß dieses Exkulpationsgebaren weithin eine dezidierte Abfuhr erfährt. Nur jener provinziell-clowneske Parlamentarier spricht das Offensichtliche offen aus: Wir haben sie genau da, wo wir sie haben wollen. Jetzt müssen sie Farbe bekennen. Wir treiben sie vor uns her ... feixte Stefan Möller (AfD Thüringen) noch am Wahlabend sinngemäß.
Es ist ja auch nicht so, daß die rechte Fraktion als Zünglein an der Waage fungiert hätte, son­dern fast die Hälfte aller Stimmen für den FDP-Ministerpräsidenten kam von den Höcke-Ge­treuen, keine Petitesse.

CDU, CSU und FDP wissen so gut wie die AfD um die nicht gar so kleinen Gemeinsamkeiten im gesellschaftspolitischen Ideen-Inventar (wenn man einmal von den Putsch- und Straffantasien der Völkischen absieht). Allein die Höcke-Partei spricht das genüßlich offen aus, bei den bürgerli­chen herrscht noch eine gewisse Heuchelei und gespielte Reserviertheit vor, schließlich hat man ein Außenbild und, schlimmer noch, ein Selbst­bild zu verlieren. Ein Altmeier, eine Kramp-Kar­renbauer, ein Laschet, ja sogar ein Lindner weiß, was in Interviews, Ansprachen und Talkshows zu sagen ist, um den freigelegten Opportunismus zu kaschieren und nicht das Gesicht zu verlieren. Und man muß allen Ernstes froh sein um diese Heuchelei, denn: Langsam bröckelt die Fassade, und die deutsche Mitte, sprich „die Union“, zeigt bald ihr wahres Gesicht. Der Einfluß derer, die früher noch den rechten Rand des Bundestages – innerhalb der CDU/CSU nämlich – bildeten, se­hen sich mit stiller Genugtuung dem nun auch parlamentarischen Druck (oder vielmehr Sog) von rechts ausgesetzt. Und auch der angestammten Wählerschaft ist die Heuchelei nicht mehr so lange zuzumuten. Das antikommunistische Ressentiment der deutschen Mitte ist stärker als die antifaschistische Vernunft, allen neuerlichen Lippenbekenntnissen zum Trotz. Und nicht erst seit der NS-Zeit oder dem Krisenelend infolge von 1929, sondern wohl schon seit der frühen Weimarer Republik, der vergurkten Revolution von 1918.

In Erwartung scharfer politischer Richtungs­kämpfe in Deutschlands größter und ewiger Volkspartei hat jetzt die Vorsitzende Kramp-Kar­renbauer klugerweise angekündigt, sich durch die zu erwartenden Gefechte nicht zermahlen zu lassen. Anders ist der Rückzug der Parteichefin kaum zu verstehen. Es muß aber auch höchst un­erquicklich sein, es einer teils linksliberalen Me­dienöffentlichkeit immer genauso recht machen zu wollen wie der eigenen, in großen Teilen la­tent rechts tickenden Parteibasis: ein orwellscher Spagat, eine Quadratur des Kreises. Mal gucken, wer so viel masochistischen Borderline-Eifer aufbringt, sich dies zumuten zu wollen.
Was die SPD zwar nicht hinter sich hat, aber mittendrin steckt, eine strukturelle Krise der Re­präsentation nämlich (Hartz/Schröder vs. Mili­eu-Sozialdemokratie), haben die Unionsparteien möglicherweise noch vor sich. Bei ihnen wird der Streit um die – eigentlich unlösbare – Frage toben, ob man es sich angesichts eines zivili­siert-proeuropäisch-liberalen Images leisten kann, so chauvinistisch aufzutreten, wie ein Großteil der Wählerinnen und Wähler tickt, und das längst auch wieder offener als früher. Das hat nicht nur die Griechenland-Euro-Politik ge­zeigt, deren Häßlichkeit mit „Willkommenskul­tur“ geheilt werden sollte.
So onkelhaft einmal Gestalten wie Brüderle me­dial rüberkamen, so tantenhaft Kramp-Karren­bauer. Und als ob Namen etwas über Charakter aussagen würden (was grober Unfug ist): so jo­vial Brüderle wirkte, so freudlos Kramp-Karren­bauer, verklemmter ist nur Brinkhaus. Das Zeug zum ehrfurchtgebietenden Militaristen – „Charisma“ nennen das ja die Fans von Aura und Autorität – hätte der pfälzische Spaßmacher rein vom Image her nicht gehabt, die saarländi­sche Gouvernante aber schon. Sie war nach der disziplinierten Adels-Ärztin mit Mutterkreuz die optimale Besetzung fürs Bundeswehr-Ressort: Als Frau, um zu zeigen, wie gleichberechtigt und zivil „wir in Deutschland“ sind; als multi­funktional-serielle Spezialministerin (Familien-, Arbeits-, Kriegs-, Europa), um dem Inbegriff streberhaften Spitzenpersonals ein Antlitz zu ge­ben („Kann sie Kanzler?“). Doch geht es hier ja gar nicht um von der Leyen, sondern um Kramp-Karrenbauer.
Dumm ist sie nicht, und daher wird sie wissen, wie sehr die Fassade sowohl der CDU/CSU-Ba­sis als auch ihrer Wähler von deren wirklicher mental-ideologischer Geistesverfassung ab­weicht. Die Fassade, gut bürgerlich und mittler­weile auch gern „zivilgesellschaftlich“, brüstet sich seit jeher mit einer Äquidistanz zu links und rechts (was schlimm genug wäre), wer aber nicht nur die Geschichte der letzten hundert Jah­re kennt, sondern auch öfter mal freiwillig oder unfreiwillig Zeuge von Gesprächen ganz norma­ler Deutscher wird, weiß, wie spinnert und naiv dem Durchschnittsbürger linke Ideen dünken und wie alltäglich rechte. Daß dieses Phänomen bei Polizei und Armee noch weiter verbreitet ist, ist ja mittlerweile sogar öffentlich bekannt.

Allein der bundesdeutschen Medienöffentlich­keit, die – das war man der Nachkriegskonstella­tion schuldig – schon immer etwas links des hie­sigen Durchschnittsgemüts war, ist es zu verdan­ken, daß der sog. politischen Mitte leicht das Be­kenntnis zur edelmütigen Distanz von den politi­schen Polen links und rechts abzutrotzen war. Dabei konnte in der Adenauer- wie auch noch in der Kohl-Ära jeder wissen, daß natürlich auch die Nachfahren des politischen „Zentrums“, Gralshüter des Konservatismus, im Zweifelsfall immer eher einem rabiaten Wahrer des Deutsch­tums beispringen würden als einem Gegner der arrivierten Besitzverhältnisse.
Das ließ sich und läßt sich nicht nur an der Po­lung der Staatsapparate, zuvörderst der Außen- wie auch Inlandsgeheimdienste studieren (BND und VS, die allesamt noch eine unverkennbar tendenziöse, jahrzehntelange Prägung aus dem Kalten Krieg mitbringen),² sondern auch bei Prominenten immer dann, wenn keine Kameras oder Mikrofone zugegen sind (die doch nur lästige Skandale produzieren). Und vor allem an beliebigen Arbeitsplätzen, in Vereinen, Kneipen usw. Das zivilisierte, liberale, demokratische Selbstbild war und ist vor allem medial vermittelt. Die Rechte weiß das – und das ist ihre Trumpfkarte. Daher kann sie so virtuos auf der Klaviatur der Andeutungen und Provokationen, der Intrigen und Skandale spielen, wie es der Linken in einem postfaschistischen Land wie diesem nie möglich war. Und daher hat man vor einem Überraschungscoup der Rechten – zurecht – viel mehr Angst als vor einem der Linken: er ist ungleich wahrscheinlicher.

Vielleicht wird man sich – angesichts dessen, was da am Horizont an stolzen Herrenreitern aufzieht – Kramp-Karrenbauer noch zurückwün­schen. Wahrscheinlich aber nicht.



²) Nur nochmal zur Erinnerung betreffs ver­meintlicher Neutralität der Staats- und Verfas­sungsorgane: der Fall KPD (verboten seit 1956), der Fall NPD (zweimal ausdrücklich nicht ver­boten, zuletzt wegen Irrelevanz), der Fall NSU (peinliches Schweigen und Schreddern), der Fall PDS/Linkspartei (geheimdienstliche Beobach­tung), der Fall AfD (nicht einmal unter Beobach­tung, obwohl Höcke, aus „der Mitte der Partei“, aktenkundig verbriefter Faschist ist).

Kommentare
18.02.2020 / 18:06 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 18.2.. Vielen Dank! Traurig, aber wahr!
 
20.02.2020 / 09:15 Tagesaktuelle Redaktion, Radio Corax, Halle
gesendet
am Montag im Mittagsmagazin. Vielen Dank!