Aus Neutraler Sicht KW 12/2004: ETA und Al Kaida

ID 6420
 
Albert Jörimann ("unser Mann in der Schweiz") produziert jede Woche einen ca. zehnminütigen Kommentar zu aktuellen politischen Themen.
Audio
11:00 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.03.2004 / 23:22

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Religion, Politik/Info, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 16.03.2004
keine Linzenz
Skript
Vor etwa vier Jahren tat ich mal ein Reischen ins Baskenland, nach Bilbao, um das Guggenheim-Museum von Frank Gehry persönlich kennen zu lernen. Es lohnt sich, kann ich nur sagen; das Einzige, was damals an diesem Museum gestört hat, waren die Ausstellungen drin, begonnen von irgendwelchen halbwegs zeitgenössischen Klecksereien bis zur Rumpelkammer zuoberst, wo einige Mondrians, Lissitzkis und so weiter vor sich hin bröckelten, vor allem der Mondrian hatte einen Pigmentverlust wie ein Albino, pfui aber auch – aber als Museum ist dieses Teil wirklich ein absoluter Hammer, also besucht das Teil doch. Es gibt noch andere Architekturmerkmale in Bilbao, zum Beispiel die U-Bahn, welche Sir Norman Forster gebaut hat bzw. die Pläne dafür gezeichnet, den ihr ja auch vom Reichtag her kennt; allerdings ist eine U-Bahn, und zumal jene in Bilbao, nicht gerade ein ideales Tummelfeld für architektonische Phantasie. Da aber Normal Forster davon ohnehin nicht allzu viel hat, wie ja auch der Reichtstag belegt, war er da wohl schon am richtigen Ort. Und dann gab es noch die eine oder andere Brücke von Santiago Calatrava, den ich nach Frank Gehry am zweitmeisten schätze unter den mir bekannten Architekten. Wie Gehry hat auch Calatrava verstanden, dass der rechte Winkel in einem Bauwerk nur ein Zufall beziehungsweise nur eine strikte Notwendigkeit sein darf, niemals aber ein gestalterisches Prinzip. Das schliesst, bei meiner Seele, neunundneunzig von hundert Architekten vom Zutritt zum Pantheon der grossen Entwürfe aus.

Als ich da so am zweiten Abend vor dem Nachtessen den Fernseh in der baskischen Nationalsprache laufen hatte, machte es darin plötzlich peng und bumm, und da war offensichtlich etwas in Flammen aufgegangen, was sich dann auf dem spanischsprachigen Sender als ein Attentat auf einen höheren Beamten in der Provinzregierung herausstellte, es könnte sich, ich weiss auch nicht, zum Beispiel um den ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten der baskischen Regionalregierung gehandelt haben, einen Sozialisten auf jeden Fall, aber darauf achten die im Baskenland ja nicht so besonders. Die ETA hatte ihn auf den langen Marsch geschickt. Weshalb, weiss auch heute noch niemand.

Es gibt nichts mehr zu wissen über allfällige politischen Beweggründe der ETA. Es gibt keine solchen Beweggründe mehr. Die ETA hat ihre Ursprünge als regionale Befreiungsbewegung, die den bewaffneten Kampf gegen das frankistische Spanien führte, längstens verloren bzw. verleugnet. Die ETA ist eine apolitische Terror- und Mörderbande geworden, die natürlich insofern wieder politisch wird, als sie letztlich antizivilisatorisch handelt. Sie jagt ziemlich wahllos Leute in die Luft, die irgend etwas repräsentieren, das der ETA gerade zu dem und dem Zeitpunkt nicht in den Kram passt, und dabei nehmen sie auch den Tod von Unbeteiligten in Kauf, von immer mehr Unbeteiligten notabene; jetzt planen sie scheints Attentate im grossen Stil auf öffentliche Infrastrukturen in ganz Spanien und natürlich vor allem in Madrid.

Dass jetzt deswegen die ETA auch verantwortlich ist für die Abscheulichkeiten vom 11. März, scheint nicht bewiesen. Es ist auch gar nicht nötig, das zu beweisen. Im zögernd veröffentlichten Dementi ihrer Urheberschaft sagt die ETA, sie würde jeweils ihre Attentate vorher ankünden. Das ist doch Quatsch. Die Drohung des Anschlags auf möglichst grosse Menschenansammlungen bleibt genau die selbe. Die ETA hat unterdessen genau jenes Kaliber, das es braucht, um solche Attentate auf den Grundkonsens eines friedlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft zu verüben. Und darum handelt es sich nun ganz einfach.

Ich werde ja nicht müde zu wiederholen, dass der soziale Friede nicht einfach ein Ziel für sich ist und sein kann, wenn er nämlich soziale Ungleichheiten festschreibt. Es hat, wie ich annehme, einen sozialen Frieden auch gegeben unter den Pharaonen im alten Ägypten. Aber dieser soziale Friede beinhaltete derart krasse Unterschiede unter den Schichten und unter den Individuen, dass ihn ein moderner Mensch nicht aushalten würde. Ein moderner Mensch würde diese Sorte von sozialem Frieden als permanenten Bürgerkrieg empfinden, obwohl er es eben nicht war. Eben: Der soziale Frieden ist nicht ein Ziel in sich. Aber die fortschrittliche Gesellschaft hat mit den ihr eigenen und sie eben genau auszeichnenden sozialen Mängeln auch die ihr angemessenen Mittel zur Veränderung der Zustände, zur Verbesserung, zur Reform der Gesellschaft geschaffen – oder durchaus zur Revolution der Zustände. Man muss sich einfach von der Kinderbuch-Vorstellung befreien, dass eine Revolution immer gleichbedeutend sein muss mit einem Blutbad. Keineswegs; auch wir kennen friedliche Revolutionen, geglückte und weniger geglückte, zum Beispiel die Nelken-Revolution in Portugal im Jahr 1974, die die Faschisten weitgehend ohne Blutvergiessen wegputschte, oder nehmt doch nur euren eigenen Aufstand vor fünfzehn Jahren, das war ja auch nix weiter als eine friedliche Revolution, wenn auch mit durchaus gemischtem Ausgang, das gehört dann ja auch zum Spiel.

Aber der Griff zum Massenattentat als Mittel zur Einschüchterung oder Verunsicherung der ganzen Gesellschaft, zu ihrer Destabilisierung, als Versuch, die Fortschritte im Zusammenleben der Menschen untereinander zu sabotieren und das Misstrauen wieder zur Grundlage der Kommunikation zu machen anstelle des Vertrauens – das kann ja nicht das Ziel einer sozialen Revolte oder einer sozialen Reform sein; hiermit bewegen wir uns in der Zeitrechnung wieder um 600 Jahre zurück und sind dann glücklich etwa dort angelangt, wo die islamistische Zeitrechung heute steht. Insofern hat dann wieder die Urheberschaft der Al Kaida eine gewisse Logik.

ETA und Al Kaida – das ist das genau gleiche Lied, natürlich mit dem Unterschied, dass Al Kaida nicht regional operiert, sondern weltweit. Die Al Kaida ist offensichtlich ein Pfropf auf dem Islamismus, also dem islamischen Fundamentalismus, der seinerseits wieder ein Pfropf ist des Islams, von dem ich zunächst mal annehme, dass er als Religion ungefähr gleich aggressiv oder friedlich ist wie die christliche. Im Übrigen kennt ja auch die christliche Religion ihre fundamentalistischen Bewegungen und Sekten, die gerade im Geschäft mit der Entwicklungszusammenarbeit am aktivsten ist und zum Beispiel von den Vereinigten Staaten aus alle lateinamerikanischen Länder mit ziemlich aggressiven evangelikalen Missionaren überziehen. Die sieht man übrigens zum Teil auch in den europäischen Strassen, diese in der Regel knapp zwanzigjährigen geschniegelten Bürschchen mit blauen Mänteln und Anzügen und weissen Hemden und Krawatten. Hastu mal ne Mark für mich?, fragen die nicht, sondern: Gibst du mir mal deine Seele? – Und hinten dran gibt es vor allem in den Mutterländern und vor allem in den Vereinigten Staaten dann schon ganze Organisationen, die durchaus noch einen Tick radikaler sind und am liebsten ihrerseits alle anderen Religionen in Schutt und Asche bomben möchten. Dochdoch, das gibt es sehr wohl im Christentum.

Aber sie tuns nicht. Sie werden im Zaum gehalten von den übergreifenden Administrationen der jeweiligen Landeskirchen oder der internationalen Kirchenverbände, allen voran natürlich dem Papst und seinen Konsorten. Und dementsprechend habe ich den Eindruck, dass es jetzt langsam im Interesse der islamischen religiösen Instanzen wäre, wenn schon nicht den islamistischen Pfropf selber, so dann doch mindestens den Al-Kaida- oder sonstige Terror-Pfröpfe auf dem Islamistischen Pfropf zu verurteilen. Was heisst da zu verurteilen: zu verdammen natürlich. Mir scheint, jetzt reichts nicht mehr, einfach daherzublatern, das seien gar keine richtigen Moslems. Damit haben die religiösen Instanzen zweifellos recht, aber wenn ich mir vergegenwärtige, dass gegen Salman Rushdie immer noch so etwas wie eine Fatwa hängig ist, dann muss ich mich doch fragen, weshalb es so was unterdessen nicht auch für die Al Kaida als Bewegung und für ihre Exponentinnen als Einzelpersonen gibt.

Wenn wir hier gerade dabei sind, könnten vielleicht die religiösen Instanzen auch ein Wort zu den Selbstmordattentaten im palästinensisch/israelischen Raum äussern. Eine Zeitlang haben wir hier sogar mit einer gewissen Bewunderung angenommen, dass sich hier Menschen aus allergrösster innerer und äusserer Not in die Luft sprengen, um Zeichen zu setzen. Die Zeichen setzen sie nach wie vor, aber mindestens meine Interpretation hat sich gedreht unterdessen. Es handelt sich nicht mehr um einzelne, einmalige Akte, die einen sozusagen militärischen Sinn ergeben im Rahmen eines Kampfes zwischen zwei Lagern, zum Beispiel dem palästinensischen und dem israelischen; unterdessen sind das von palästinensischer Seite aus so was wie die Kindersoldaten in Afrika, die einfach um eine religiöse Dimension blöder sind, welche da in einen Selbstmord getrieben werden, der sich im Kern nicht einfach gegen die israelische Besatzungsmacht, sondern gegen Menschen, damit auch gegen die Menschheit und somit letztlich auch gegen die PalästinenserInnen selber richtet. Ein Wort in diesem Sinne von den religiösen Autoritäten des Islam wäre doch sicher nicht verfehlt.

Oder gibt es die gar nicht? Oder haben sie gar keine Autorität, diese Autoritäten? Aber für die Fatwa gegen Rushdie hat es doch immerhin gereicht. Sind es einfach Feiglinge mit Brunz und Kacke in den Windeln?

Kann schon sein. Wahrscheinlich ist es nicht sehr nützlich, jetzt als Reaktion auf die Attentate in auch nur entfernt antimoslemische Atavismen zu verfallen. Das wäre ja wohl mit eines der Ziele der Attentate gewesen, nämlich die mehr oder weniger emotionslose Vernunft abzuschaffen, dem der Westen ja nicht nur den laizistischen Staat, sondern auch sämtliche Errungenschaften der Wissenschaft und damit auch die Überlegenheit der Wirtschaft und nicht zuletzt des Militärs verdankt. Logo, ich sollte mich nicht aufregen. Ich rege mich aber auf. Und manchmal habe ich den Eindruck, dass gerade in Europa bei den Moslems manchmal falsche Eindrücke entstanden sind, wenn man hier Israel kritisierte. Ich glaube, dass einige Fehlinterpretationen aus der muslimischen Gemeinschaft in die arabische Welt geflossen sind wegen solcher Kritik. Das muss man vielleicht in Zukunft stärker berücksichtigen, auch wenn man deswegen durchaus nicht von einer Kritik an diesem unausstehlichen Ariel Sharon absehen muss. Aber man muss vielleicht wirklich deutlich sagen, dass die arabisch-moslemische Unterstützung, und sei sie auch nur durch schweigende Toleranz, von solchem antizivilisatorischen Ungeziefer wie Al Kaida und Konsorten ein Vielfaches schwerer wiegt als alle israelischen Blödheiten zusammen.

Naja. Vielleicht hab ich mich in einer Woche wieder etwas eingekriegt.