"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schöne Feiertage

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Schöne Feiertage rollen auf uns zu, die 100-Jahr-Feier der Oktoberrevolution und das 500-Jahr-Jubiläum der Reformation. Anlässlich der ersteren werden sich die jungen und alten Markt­wirt­schafts­fetischisten oder auch nur Anhänger jeglicher Form von autoritärer Ordnung beziehungs­weise Gegner jeglicher Form von Revolution wieder einmal, vielleicht ein letztes Mal so richtig in Schale werfen und der Geschichte erklären, was sie anno 1917 alles falsch gemacht hat.
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10:27 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.12.2016 / 11:40

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 20.12.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das ist in Ordnung, insoweit die historische Empörung der Triebabfuhr dient und hoffentlich Energien aus anderen aktuelleren Bereichen abzieht. Aus neutraler Sicht verneigen wir uns vor dem großartigen Versuch, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft aus den Händen der Geld- und Hofaristokratie zu reißen und sozusagen in Volkseigentum zu überführen, ein gewaltiger Versuch, die Individuen und ihre Organisationen ihrer Identität zuzuführen. Über die Schwierigkeiten des Unterfangens, ja vielleicht sogar über seine Unmöglichkeit sind zahllose kluge Untersuchungen verfasst worden, die allerdings mit der Triebabfuhr der Apologeten der Konkurrenz nichts zu tun haben. Die Ver­hält­nisse präsentierten sich zwar in Russland im Jahr 1917 niemals so komplex wie heute, aber die Grundfrage, ob nämlich der Mensch und die Menschheit ihre eigenen Geschicke tatsächlich in die Hand nehmen können, diese Grundfrage stellt sich nach wie vor unverändert und vielleicht sogar mit viel größerer Vehemenz, nämlich näher beim Kern des Menschen; vor hundert Jahren ging es bekanntlich noch um ganz elementare Probleme wie Hunger, Ausbeutung, absoluter Mangel an medizinischer Versorgung, katastrophale Unterkünfte und so weiter und so fort. Mit solchen Themen beschäftigen wir uns heute nicht mehr beziehungsweise in der politischen Diskussion nur noch in symbolischer Form. Heute sind wir näher bei der demokratischen Kernfrage, eben, ob die Gemeinschaft in der Lage ist, ihre Existenzbedingungen tatsächlich zu erkennen und zu bestimmen, und zwar weitgehend losgelöst von den so genannten materiellen Dingen.

Produktion und Verteilung dieser materiellen Dinge haben sich in mirakulöser Weise anders ent­wickelt, als es die Genossinnen und Genossen vor 100 Jahre erwarteten. Das kann man der freien Marktwirtschaft zuschreiben, wenn man will, und ganz falsch ist dies auf jeden Fall nicht, bloß auch nicht ganz richtig, denn zur beispiellosen Entfaltung der Produktivkräfte trugen seit 1917 weitere, außerökonomische Kräfte ihr Teil bei, einschließlich des Zweiten Weltkrieges. Auf jeden Fall spielt in diesem Prozess die Wissenschaft eine Hauptrolle, vor allem die angewandte Wis­sen­schaft; soweit sie Wirtschaft in der Lage war, die Erkenntnisse der Natur- und Produktionswis­sen­schaften zu integrieren, und soweit die Politik in der Lage war, diesen Zusammenarbeits­prozess zu fördern, soweit sich alle Beteiligten darauf einigten, dass die kapitalistische Massen­produktion nur dann einen Zweck hat, wenn die Massenprodukte auch an die Massen abgesetzt werden können, ist der Lobpreis der Marktwirtschaft korrekt, bloß bedeutet dies gleichzeitig, dass es sich eben nicht um die freie Marktwirtschaft und um die reine Konkurrenz handelte, sondern um das, was wir heute die sozialdemokratische, meinetwegen soziale Marktwirtschaft nennen.

Abgesehen davon hat die Sowjetunion bei all den gewaltigen Fehlern, Mängeln und Verbrechen, welche sie vor allem in den ersten dreißig Jahren begleiteten und zeitweise prägten, ebenfalls ein System von Produktion und Verteilung erzeugt, das mit den kapitalistischen Systemen mitzuhalten vermochte, von der Wissenschaft ganz abgesehen. Allerdings hatte das sowjetische System zu kei­nem Augenblick seiner Existenz etwas mit Kommunismus zu tun, und die Repression der anti­sow­jeti­schen Kräfte wuchs sich nach einer anfänglichen Kriegsnotwendigkeit zum Strukturmerkmal aus, mehr oder weniger als reine Repression und reine Bürokratie. Wo in dieser Entwicklung die Frage der Identität der Subjekte und ihrer gesellschaftlichen Organisation geblieben ist, braucht man sich nicht einmal mehr zu überlegen. Diese zentrale Frage wurde derart radikal aus der gesell­schaft­lichen Praxis ausgeschaltet, dass die Gesellschaften in Russland und den GUS-Ländern noch heute schwer zu kämpfen haben nur schon mit der Thematisierung der Bedingung des menschlichen Seins.

400 Jahre zuvor schlug Martin Luther seine Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg, in erster Linie als Aufruf gegen den Ablasshandel. Die Opposition gegen die Kirchenführung weitete sich aus und nahm dauerhafte Gestalt an, in Zürich, in Genf, in den Niederlanden, in England. Auch der Süden Frankreichs, wo die Nachfahren der Katharer und anderer Häretiker die antirömischen Traditionen nie ganz hatten abbrechen lassen, wurde zu einem Tummelplatz der Reformierten. Un­ter den verschiedenen prägenden Inhalten der Reformation war wohl der direkte Zugang zu Gott, ohne Vermittlung durch die kirchliche Autorität, der wichtigste; und insgesamt hatte die Refor­ma­tion nicht zuletzt ihren Erfolg, weil sie in der Renaissance stattfand, einer Zeitwende, welche das Mittelalter endgültig zum Verschwinden brachte. Neue Technik allerorten, am wirksamsten aber die Drucktechnik trugen zum gesellschaftlichen Wandel bei, und gerade die Drucktechnik erinnert uns heute an die neuen sozialen Medien; zweifellos war sie zu ihrer Zeit nicht viel weniger als heute Facebook und Instagram. Schließlich wurde auf den neuartigen Pressen nicht nur endlos die Bibel hergestellt, sondern auch zahllose politische und Schmähschriften, welche leicht als Vorläufer der heutigen Hass- und Fake-Nachrichten identifiziert werden können.

Im heutigen Verständnis wird die Reformation nicht zuletzt als Voraussetzung für die Entstehung einer kapitalistischen, produktionsorientierten Moral gesehen, wie dies Max Weber anfangs des letzten Jahrhunderts ausführte. Man kann davon ausgehen, dass die Katholiken sich unterdessen längstens ebenfalls in die Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation geschickt haben. Eines steht auf jeden Fall fest: Mit der Revolution, wie sie im 16. Jahrhundert zum Teil ebenfalls proklamiert wurde im Rahmen der Bauernkriege, hatten die tüchtigen Reformatoren nichts am Hut. Die Reformation hatte tatsächlich nur aus dem Grund Erfolg, weil sie sich an vielen Orten mit der weltlichen Macht verbündete. Der Rest ist Geschichte.

Heute befindet sich die reformierte Kirche in einer seltsamen Position. Im Gegensatz zum Katholizismus hat sie sehr viele Elemente des Rationalismus übernommen. Insofern ist sie sicher gewitzter und moderner als dieser. Umgekehrt scheint seit mehreren Jahren ein gewisses Defizit im emotionalen Bereich auf. Die evangelikalen Bewegungen, welche zunehmend die Szene beherrschen in den Vereinigten Staaten und in Brasilien, aber auch in Südkorea erzielen ihre Geländegewinne nicht nur auf Kosten der evangelischen, sondern auch der katholischen Kirchen nicht zuletzt mit hahnebüchernen Spektakeln, welche den Glauben als spirituelles Erlebnis in echte Spektakel umformen. Eine andere Art, sich aus der Rationalität des evangelischen Glaubens zu flüchten, liegt in anderen Prothesen, zum Beispiel in der Vermenschlichung der Tierwelt oder in der Vergöttlichung der Schöpfung, wo in jedem Stück Baumrinde der Geist unmittelbar präsent und evident ist. Für so eine reformierte Kirche ist dies nicht einfach. Viel hängt davon ab, wie man die eigenen Gemeindemitglieder einschätzt: Sind die nun aufgeklärt, oder tragen sie in sich ein dumpfes Bedürfnis nach Transzendenz? Eine Transzendenz, welche sich eben nicht in Worte fassen lässt, sondern das begriffslose oder überbegriffliche Erleben und Fühlen umfasst?

Ich bin froh, dass ich kein Pfarrherr bin und keine Pfarrfrau, sonst würde mir wohl mulmig angesichts der Tatsache, dass ich ein 500-Jahr-Jubiläum feiern muss, während zum evangelikalen Furor noch der Islamismus kommt beziehungsweise die Furcht vor dem Islamismus. Dabei ist der Islamismus im Kern komplett antireligiös, weil amoralisch; er ist eine spezifische Ausbildung oder Ausstülpung des Bedürfnisses, eben nach begriffsloser und damit leider auch nur scheinbarer Identität, das im Moment in tausend Formen wieder ans Licht des Tages drängt.

Unterdessen entwickelt sich die Welt munter weiter, und neben dem religiösen Disput erhebt sich immer besser sichtbar jene neue Realität, in welcher die große Datenmaschine besser über die einzelnen Menschen Bescheid weiß als sie selber, inklusive ihrer religiösen Beschaffenheit und ihrer intimen Probleme und Vorlieben. Welche Streiche uns diese Instanz spielen wird, können wir im Moment noch nicht absehen, aber man kann davon ausgehen, dass die Algorithmen zum Abgleich von Kauf-, Verhaltens- und Denkformen schon längst tätig sind. Kann man etwas dagegen tun? Man kann Briefe schreiben, zum Beispiel, und zwar in möglichst unleserlicher Handschrift. Das ist aber sicher nicht die definitive Lösung.

Naja. Jede Zeit produziert ihre eigenen Formen, und da unsere Zeit nach wie vor in ständiger Umwälzung begriffen ist, lassen die neuen Formen halt etwas auf sich warten, was nichts daran ändert, dass sie kommen werden. Ich gehe davon aus, dass man einen Umgang findet mit der neuen Form der elektrischen Datenverarbeitung, dass also nicht maschinenstürmerische oder anderweitige Abwehrmaßnahmen im Vordergrund stehen, zum Beispiel die Zerstörung von Satelliten und ihrer Netzwerke oder die Sprengung von Speicherzentren von Google und anderen Diensten. Immerhin steht hier eine im Kern ebenfalls theologische Frage zur Debatte: Offensichtlich hat sich die Menschheit neben den verschiedenen psychologischen Massen-Institutionen nun eine physisch-physikalische Institution geschaffen, die über ihren Köpfen tatsächlich vorhanden ist und ihre Automobile in sicheren Bahnen geleitet. Was das letztlich soll, weiß ich nicht. Aber eines bezweifle ich, nämlich dass all diese Netzwerke die Befreiung des Individuums zum Zweck haben. Vielmehr sind die meisten praktischen Erscheinungen nicht anders denn als Beleidigung aufzufassen, von den Werbeangeboten, welche Google aufgrund meiner letzten Suchanfragen zuoberst auf die Webseiten bringt bis hin zu jenen Verhaltensmustern, die sich rund um die Social Media entwickelt haben. Wir stehen hier ganz am Anfang und haben sozusagen digital noch nicht mal laufen gelernt. Aber der Mensch ist nicht nur ein Allesfresser, er lernt Gottseidank auch schnell.

Kommentare
25.10.2017 / 22:19 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
Funkfeuer Mannheim (100 Jahre Oktoberrevolution)
wird gesendet ohne den Lutherteil am 28.10.. Danke.