"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Frau Mai im Juni

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Obwohl die Labour-Partei mit 40% der Wählerstimmen hinter der konservativen Partei mit 42.5% zurückliegt, fühlt sich Jeremy Corbin zu Recht als Sieger der Parlamentswahlen in England von letzter Woche, was uns Laien erfreut und überrascht und auch die Fachleute zum Staunen gebracht hat.
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10:39 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.06.2017 / 15:08

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.06.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Um es gerade in diesem Moment des Triumphes, der aus einer Niederlage besteht, zu wieder­holen: Jeremy Corbin hat sehr Vieles, was ihn sympathisch macht, unter anderem die bedingungs­lose Unterstützung des öffentlichen Sektors, was gerade in England keine Selbstverständlichkeit ist angesichts einer konservativen Partei, die man zum Teil als reaktionär bezeichnen muss und welche in einem unerhörten Maß ihren Ideologien nachhängt als sonstwo auf der Welt. Trotzdem hat Jere­my Corbin kein Programm. Aber offenbar reichen manchmal ein paar gute Grundsätze bereits aus, vor allem angesichts einer Regierung, welche den guten alten Corbin mit Spott und Häme übergoss im Einklang mit der englischen Boulevardpresse, die eigentlich eine australische Boulevardpresse ist. Das muss man sich auch mal vorstellen: In England gibt es nicht eine, sondern viele Bild-Zei­tun­gen, und nachdem sie sich kurz geschüttelt hatten aufgrund des News-of-the-World-Skandals läuft ihr Rührwerk im Morast des kollektiven Halbbewusstseins wieder auf Hochtouren, und wie gesagt: Jeremy Corbin war eines ihrer Lieblingsziele. Allein deshalb möchte man den kultivierten älteren Herrn küssen und herzen, und zusätzlich wundert man sich, dass es die Labour-Partei geschafft hat, sich mindestens bei diesen Wahlen nicht selber zu demontieren mit den sonst übli­chen Flügelkämpfen. Das ist vielleicht die historische Hauptleistung der gusseisernen Lady May: dass sie ihren Gegner derart verächtlich zu machen versuchte, dass sie damit die Labour-Partei zusammenschweißte und das halbe Land gegen sich mobilisierte. Und für die Konservativen kann es nun nur heißen: Nie wieder Wahlen im Juni, wenn die Kandidatin Mai heißt, und für die nähere Zukunft kann das auch wieder nur bedeuten, dass es im September keine Neuwahlen gibt, denn für solche steht als Nachfolger der, mindestens im Moment abgelaufenen Frau Mai offenbar ein ziemlich dummer August in den Startlöchern, diese Trump-Geburt vor Trump selber, Boris Johnson, der so viel Stroh im Schädel hat, dass es ihm schon zum Kopf raus wächst.

Entschuldigen bitte diesen kurz aufbrausenden Ärger, der im Wesentlichen darin wurzelt, dass sich die englischen Konservativen derart demonstrativ um keinen, ich hatte diesen analytischen Begriff in früheren Sendungen eingeführt: Mückenseckel um die öffentlichen Belange scheren, zu deren Führung, Verwaltung und Verbesserung sie doch gewählt wurden. Die Aushungerung des Gesundheitsdienstes, die Zerschlagung des öffentlichen Verkehrssystems und die Bekämpfung der Armen anstatt der Armut, das ist einfach nicht mehr konservativ, sondern eben reaktionär, ein Anachronismus jenseits eines normalen Vorstellungsvermögens, und jetzt bin ich fertig damit, respektive leider nicht, denn die Konservativen werden ja weiter wurschteln, die Fragen rund um den EU-Austritt bleiben absehbar noch mehrere Jahre offen. Vermutlich wird sich die englische Politik und Gesellschaft erst dann erneuern, wenn die Banker zu Dutzenden aus den Fenstern ihrer Hochhäuser springen und davon fliegen.

Im Gegensatz zur Ferrophobie von May und Johnson, die auf die trotz allem eiserne Maggie Thatcher zurückgeht, welche zu ihrer Zeit allerdings nicht die Eisenbahnen als solche hasste, sondern die damit verbundenen Beschäftigten in ihrer gewerkschaftlich organisierten Form, und hier erlaubt ihr, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer, mir die Zäsur mit dem Einwurf, dass in England in den 1970-er Jahren tatsächlich die historisch bisher am weitesten entwickelte Form der gewerkschaftlichen Macht in Wirtschaft und Gesellschaft beobachtet wurde, Ende Zäsur. Im Gegensatz also zur Ferrophobie der englischen Konservativen wird seit einiger Zeit in der ehemaligen englischen Kolonie Kenia wieder Eisenbahn gebaut, und zwar mehr oder weniger als Replik jener Strecken, welche die Engländer vor hundert Jahren angelegt hatten, als die Kon­ser­vativen noch ferrophil waren. Heute sind es aber die Chinesen, welche das Teil bauen. Die Strecke von Mombasa am Meer nach Nairobi ist schon zu schönen Teilen fertig, und es versteht sich von selber, dass auf diesen Trassen nicht Kompositionen des kanadischen Waggonbauers Bombardier verkehren werden, sondern chinesische Züge, und die Planung für die Weiterführung der Linie von Nairobi aus in den Süden nach Burundi und in den Norden in den Südsudan ist schon weit fortgeschritten. Schon wieder eine gute Nachricht aus Afrika!, auch wenn sich einige Jour­nalisten beschweren, dass es bei der Eröffnungsfahrt auf dem letzten Teilstück keine Plätze für die Europäer gab, sondern nur für die Kenianer und die Chinesen. Immerhin ist in den Afrikanern selber noch ein Teil Europäer haften geblieben, namentlich in jenem Ökonomen, welcher scharfsinnig bemerkte, dass sich die Chinesen nicht nur an die ehemaligen kolonialen Vorbilder hielten, sondern auch heute wieder geradewegs kolonial benähmen, indem sie das Ganze nämlich zu schönen Teilen auch noch selber finanzieren. Wo er Recht hat, hat er Recht, unser afrikanischer Ökonom, aber er hat vergessen zu erklären, weshalb im Namen sämtlicher aktueller und ehemaliger afrikanischer Staatsoberhäupter es niemals einem von ihnen in den Sinn gekommen ist, auch nur die Instand­haltung, geschweige denn den Ausbau des Schienennetzes an die Hand zu nehmen. In dieser einen Kernfrage und auch in der gedanklichen Leichtigkeit, mit welcher der kenianische Ökonom sie ausblendet, zeigt sich eine gute Hälfte des gesamten afrikanischen Dramas.

Übrigens nicht nur Afrikas. Kürzlich besuchte ich zufälligerweise eine Veranstaltung mit Jutta von Dittfurth, einer der ehemaligen Lichtgestalten der deutschen Grünen und heute aktiv bei der Ökolinken, welche über die Aktivitäten der BDS-Bewegung in Deutschland berichtete. BDS steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen, und zwar gegenüber Israel. Selbstverständlich bewegt man sich in der Israel-Debatte immer und überall auf schwankendem oder vermintem Terrain oder was auch immer für Bilder man anstrengen will. Von Dittfurth nennt die BDS anti­zionistische Antisemiten und verweist auf personelle Verflechtungen mit Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern und Rechtsextremen, wobei die BDS schon in erster Linie versucht, sich als linke pro­paläs­ti­nensische Opposition zu positionieren. Umgekehrt stößt die israelische Politik selbstverständlich auch bei Jüdinnen und Juden auf Ablehnung. Aber ein Hinweis ist mir in die Hirnschale gefallen, der mich seither nicht mehr los lässt, und zwar betrifft er eben genau die Infrastrukturen. Die paläs­ti­nen­sische Autonomiebehörde in Ramallah verfügt doch über ein durchaus ansehnliches Budget, welches meines Wissens vor allem von der internationalen Staatengemeinschaft getragen wird. Welche Teile dieses Budgets fließen denn nun praktisch in die Infrastrukturen in der Westbank, also in die von dieser Behörde verwalteten Gebiete? – Ich habe bisher noch nicht viel dazu gelesen, muss aber zugeben, dass ich kein Fachmann bin. Besonders viel scheint es jedenfalls nicht zu sein, zum einen, und zum anderen: Ich bin mir sicher, dass die Autonomiebehörde, wenn sie tatsächlich Ernst machen wollte mit der Verbesserung der Lebensumstände für die Bevölkerung in der Westbank in der Form der Herstellung oder Modernisierung der Infrastrukturen, dass sie hierfür gezielte Gelder jederzeit lockermachen könnte. Und ich bin mir halbwegs sicher, dass dies eben für die Autonomiebehörde keine besondere Priorität hat. Was wiederum verweist auf den anderen Schauplatz der Palästina-Frage, nämlich dass Tausende von Flüchtlingen, zum Beispiel in Jordanien, nunmehr seit Generationen als Flüchtlinge leben und nicht etwa die Staatsbürgerschaft ihrer Residenzstaaten erhalten, eben, auch in zweiter oder dritter Generation nicht.

Etwas daneben, nämlich auf der arabischen Halbinsel, von welcher niemand weiß, ob sie zu Asien gehört oder ein aus der Zeit gefallener Steinzeitpark ist, in welchem einer Schar beduinischer Nomaden plötzlich ein paar Bündel Geldscheine in die Hände gedrückt wurden, befindet sich ein weiterer aktueller Schauplatz des menschlichen Gaudiums, wie Ihr sicher gehört habe und wie ich mich schon vor einer Woche gewundert habe. Die saudischen Beduinen haben offenbar den Eindruck, sie hätten nach dem Besuch des Clowns aus Washington freie Hand, und sie versuchen jetzt, der Konkurrenz aus Katar die Luft abzuwürgen. Katar ist ja nicht nur die Heimat des nach einigermassen modernen Methoden konzipierten Fernsehsenders Al Jazeera, sondern mit einem Weltmarktanteil von 30 Prozent auch der führende Exporteur von Flüssiggas, und dies wird allgemein als wichtigster Grund für den aktuellen Boykott Katars durch Saudiarabien angesehen. Die Vorwürfe der Saudis an Katar von wegen Terrorfinanzierung sind etwa so absurd, wie wenn Theresa May oder Boris Johnson behaupten würden, sie hätten die Verstaatlichung der Eisenbahnen in England geplant und vollzogen. Die IS-Terroranschläge in Teheran fanden absolut nicht zufällig synchron zur Verhängung des Saudi-Boykotts statt. Die Hände der Saudis stecken direkt und indirekt über die salafistischen und wahabitischen Ideologie-Lieferanten mitten im Djihad drin.

Zu Katar wollen wir aber doch noch nachtragen, dass sie über ihren Staatsfonds seit der Finanzkrise eine Beteiligung von 5% an der Schweizer Grossbank Credit Suisse halten; dazu kommen noch 13% in der Form von sogenannten Kaufrechten, eine Form von Wandelanleihen, für welche die Katarer im Moment 9.5% Zinsen erhalten. Diese Kaufrechte werden bei einer allfälligen Krise in Aktienkapital umgewandelt, sodass die Katarer dann mit rund 18% an der Credit Suisse beteiligt wären. Zudem haben die Katarer mit der Zürcher Credit Suisse ein Joint Venture gegründet mit dem schönen Namen Aventicum Capital Management, wobei sich Aventicum auf eine alte Römerstadt in der Westschweiz bezieht. Der Zweck dieses Joint Ventures besteht neben weltweiten Inves­ti­tio­nen in der Finanzierung von Infrastrukturen in Katar. Das Gründungsdatum liegt im Jahr 2012, rund zwei Jahre, nachdem der in Zürich domizilierte Weltfußballverband FIFA die Weltmeisterschaften 2022 an Katar vergeben hatte. Wer hier keine Zusammenhänge erkennt, ist ein staatlich diplomierter Dummkopf.

Gewisse Journalisten witterten Probleme für die Credit Suisse im internationalen Kapitalgeschäft, wenn nun die Katarer für die nächsten Monate als Prügelknaben für die Terroristenfinanzierer in Saudiarabien herhalten müssen. Aber die kann man beruhigen: Die saudiarabische Familien­gesell­schaft Olayan hält bereits jetzt über 15% an der Credit Suisse, was beweist, dass die immer­wäh­ren­de Neutralität auch im Bankengeschäft einfach nur richtig ist.

Kommentare
15.06.2017 / 18:03 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
bermuda.funk
lief in sonar am 15.6.. Danke!