"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Olga Slawnikowa

ID 84278
 
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Seid ihr sicher, dass ihr im September die Bundestagswahl durchführen wollt? Könnt ihr nicht einfach das bisherige Parlament verlängern?
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10:46 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.08.2017 / 09:37

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Arbeitswelt, Kultur, Politik/Info, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 01.08.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Eine tatsächliche Verschiebung bei den Mehrheitsverhältnissen ist nicht absehbar, ihr werden wiederum eine sozialdemokratische Mehrheit aus SPD, CDU und CSU wählen, und die paar identitären Farbtupfer von der Allianz für Deutschland beziehungsweise die identitätslosen Einsprengsel von der FDP braucht es in diesem Konzert eigentlich nicht; die Grünen und die Linke reichen mir als Opposition vollständig aus. Dabei ist es ja nicht sicher, ob die Mutti-Mörder von der AfD im September überhaupt noch exis­tieren, auch wenn Frau Petry jetzt mit ihrem Baby Wahlkampf macht; die vermeintliche Hoch­konjunktur der Rechtsnationalistinnen und Rechtsnationalisten in Europa ist derart radikal in sich selber zusammengefallen, dass man auch für die deutsche Ausgabe das Schlimmste befürchten muss. Also: einfach die Mandate verlängern ohne weitere Umstände und weiterregieren wie bisher; da vermeidet ihr auch bei der SPD die heikle Entscheidung, wer denn bei einer Neuauflage der Großen Koalition den Vizekanzler geben soll. Martin Schulz wird es wohl nicht sein können, das wäre dann doch zuviel Europäische Union in einem einzelnen Mitgliedland, und umgekehrt muss man mit dem Schulz auch etwas anstellen, wo der doch in einem kritischen Moment genau diese bekloppte rechtsnationalistische Anwandlung wieder in die Spur der sozialen Frage zurückgeführt hat.

Ich bitte um Verzeihung: Selbstverständlich hat Martin Schulz nicht die soziale Frage gestellt, sondern das Thema der sozialen Gerechtigkeit wieder ins Zentrum der Diskussionen gerückt, was auch nicht verwerflich ist, aber eben eine sozialdemokratische Parole, welcher die großen Parteien schon seit Helmuth Kohl immer Rechnung tragen, wenn auch nicht immer auf die gleiche Art und Weise. Die soziale Frage dagegen, also jene nach den Herrschaftsverhältnissen, die stellt gegenwärtig kaum jemand. Herrschaft ist schon lange sehr komplex geworden, es ist unnütz, sich eine fiktive Bourgeoisie im Kampf gegen ein fiktives Proletariat vorzustellen, so läuft das schon lange nicht mehr, auch wenn nach wie vor Geld verdient wird wie Heu in der kapitalistischen Waren- und Finanzwirtschaft, aber seine Verteilung zum einen und die echten Entscheidungslinien zum anderen folgen komplett anderen Mustern als zu Zeiten Ludwig Erhards, den heute verschiedene namhafte Politikerinnen von links und rechts gerne zitieren. Vor allem aber scheint mir zentral, dass die soziale Frage sich heute durchaus nicht unbedingt an den Besitzverhältnissen orientieren muss, sondern vielmehr an den einfachen Menschen, soweit sie überhaupt ihrerseits einfach sind. Es geht darum, wie die Gesellschaft einzurichten ist, damit restlos alle Individuen ein Maximum an Bildung, Ausbildung, Genussfreudigkeit, Fähigkeiten, Denkvermögen und so weiter erhalten, und zwar ein ganzes Leben lang, und dass sie gleichzeitig ihren Spieltrieb und auch alle weiteren Triebe ausleben können, naja, in möglichst umweltschonender Art und Weise, aber das müsste sich ja irgendwie einrichten lassen. Dies ist der Gegenstand jeder sozialen Fragestellung, und ihm nachgeordnet kommt die ebenso große Frage: Wo ist denn bitte die Bewegung oder überhaupt die Generation, welche sich mit dieser neuen sozialen Frage beschäftigen täte und dies zum Inhalt ihrer Politik macht?

Denn dies ist die echte Alternative, nicht für Deutschland, sondern für die ganze Welt. Nur wer darauf drängt, dass nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Infrastrukturen der Gesellschaft total modernisiert werden, sodass sie den vorher genannten Ansprüchen genügen, nur der verdient in Zukunft eure Stimme, und die meine dazu. Leider ist dieses Programm noch nicht geschrieben. Und aus diesem Grund könnt ihr euch die aktuelle Wahl wie gesagt durchaus ersparen.

Im Frühjahr dieses Jahres gab es einen Tag der unabhängigen Verlage, und bei dieser Gelegenheit bin ich durch meine unabhängige Buchhandlung spaziert, die gleichzeitig ein unabhängiger Verlag ist, wie könnte es anders sein, und habe mich im Angebot der unabhängigen Verlage umgesehen in der Hoffnung, endlich mal auf zeitgenössische Literatur zu stoßen, die ich zum einen noch nicht kenne und die mich zum anderen erbaut und weiter bringt. Und siehe da, nach kaum zwei Dritteln meines Rundgangs stach mir schon ein Titel ins Auge, der zeitgenössischer gar nicht sein konnte, ein Buch mit dem Titel «2017». Nie entsprach ein Angebot besser einer Nachfrage, und übrigens hoffe ich, dass dies demnächst mal wieder der Fall sein wird im politischen Bereich, wer einen sachdienlichen Hinweis hat, der oder die soll sich bitte melden. – Kaufte ich also dieses «2017», und stellte ich fest, dass es sich um das Werk einer russischen Autorin handelt, mit Namen Olga Slawnikowa, dass die Originalausgabe bereits 2006 erschienen ist und die Deutsch-Übersetzung bereits 2016. Es handelt sich also um eine halbwegs utopische Schrift von Frau Slawnikowa, die man heute auf ihren prophetischen Gehalt hin überprüfen kann, nicht ohne vorher festgehalten zu haben, dass Andrej Amalrik in seiner Kurz-Utopie «Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?» im Jahr 1969 immerhin noch 15 Jahre veranschlagte, während es dann doch 20 wurden, bis sie explodierte; die elf Jahre von Frau Slawnikowa sind also verhältnismäßig wenig, aber sie ist in ihrem Roman auch nicht so ambitiös, das Ende Russlands vorauszusagen, wobei ich mir nicht sicher bin insofern, als ich das Buch noch gar nicht fertig gelesen habe. Aber auch so kann und muss ich dieses Buch schon loben, und zwar, weil es auf verschiedenen Ebenen recht unterschiedliche Geschichten erzählt und Atmosphären hervorruft, zum einen einmal selbst­ver­ständ­lich eine Jugend mehr oder weniger in der Gosse irgendeiner verlotterten russischen Klein- oder Großstadt, dann aber sofort eine halbwegs mystische Welt im sogenannt riphäischen Gebirge, wo Berggeister und Zauberfrauen die Korund- und Edelsteinfunde bestimmen und wo die Hauptperson in einer Kristallschleiferei die absolute Transparenz sucht; eine weitere Ebene ist die der Reichen und Schönen, wobei die Ehefrau des Kristallschleifers nicht nur eine besondere Rolle in dieser Welt spielt, sondern in ihren spärlichen Aussagen auch die einzige ist, welche Klartext spricht, zum russischen System ebenso wie zu den Hoffnungen auf großen Reichtum der Bergleute und Kristallsucher. Der besondere Reiz des Buches entsteht für mich aber auf der halbwegs mystischen Ebene, egal, ob in den riäphischen Bergen oder rund um die Kristallschleiferei, wo die Erzählung jeweils zu schweben beginnt und verschiedene Diktate von Physik und Realismus außer Kraft setzt. Eine solche Störung einer einfachen Erzählebene erscheint mir immer wieder als besonders reizvoll, und ich freue mich schon, diesen Roman fertig zu lesen. Ein Ereignis möchte ich hier aber hervorheben, weil es seither halbwegs Eingang in meine Gedankenbildung gefunden hat, nämlich sind es die 100-Jahr-Feiern der russischen Revolution in besagter Kleinstadt, welche den Anlass dafür geben, dass sich die Figuranten plötzlich wieder benehmen wie die Originale vor 100 Jahren, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ihnen sonst nichts in den Sinn kommt. Frau Slawnikowa bringt dieses Motiv schon früher, wenn sie schreibt, dass die Armen eigentlich gar nicht arm seien, sondern die Armen bloß spielten, und dies hat mir eben direktemang eingeleuchtet mit Bezug auf unsere eigene Armutsdiskussion. Wie es sich in Russland verhält, weiß ich nicht, dass es anderswo auf der Welt noch echte Armut und echtes Elend gibt, weiß ich dagegen sehr wohl, aber dass die Armutsdiskussion in der zivilisierten Welt, ebenso wie andere Fragen wie zum Beispiel jene nach der sozialen Gerechtigkeit oder je nachdem auch die soziale Frage, in reiner Figuranten-Form gestellt werden zum einen, dass auf der vermeintlich rechtsextremen Seite des politischen Spektrums auch all die NPD- und AfD-Halsabschneider nichts anderes sind als schlechte Figuranten, das leuchtet bei genauem Hinsehen ja direkt ein. Und so hat die Utopie von Frau Slawnikowa einen ganz besonders aktuellen Bezug zur Gegenwart, bloß vielleicht weniger auf der rein literarischen Ebene, die ich aber genauso loben möchte wie den ganzen Rest.

Ein Nachtrag noch zu den Figuranten der Armut in Europa. Ich verfolge bekanntlich die Debatten rund um das bedingungslose Grundeinkommen nach wie vor mit großem Interesse, weil es halt nichts weiter ist als ein absolut vernünftiger und überfälliger Schritt nach vorn. In den Debatten tun sich immer wieder Figuranten des Antiimperialismus hervor und denunzieren das Grundeinkommen als missliches Konzept zur Rettung des Neoliberalismus, sprich ein Minimalprogramm zur Abspeisung der entrechteten Massen, welche ansonsten in, naja, was sonst wohl: Armut, Prekarität und so weiter und so fort verfallen. Dieser Argumentation will ich hier gar nicht weiter folgen, sondern nur ein Detail hervor heben, das mir als neu in die Augen gestochen ist: Der betreffende Kollege von der hoffentlich äußersten Linken räumte in einem Nebensatz ein, dass es in den entwickelten Ländern keine absolute Armut mehr gebe. Umso mehr tadelte er, und dies meinetwegen zu Recht, aber wie auch immer, tadelte er also die relative Armut und die damit verbundenen schreienden Ungerechtigkeiten, was zu anderen und in Umrissen bekannten Diskussionen zurückführt, aber für mich war das historische Ereignis jenes, dass sich erstmals einer aus der versammelten extremen linken antiimperialistischen Armutskonferenz dazu hinreißen ließ, in einem Nebensatz öffentlich einzuräumen, dass es bei uns keine absolute Armut mehr gebe. Das halte ich für einen kulturhistorischen Meilenstein, und deswegen räum ich ihm an dieser Stelle auch ein größeres Gewicht ein, als es ihm an und für sich gebühren täte, und ich bitte gleich wieder um Entschuldigung dafür. Aber immerhin: In Frankreich haben die Linksextremen die Armut abgeschafft, wenn auch nur in ihrer absoluten Form, aber immerhin. Darauf ein Prosit.

Ein Prosit daneben auch auf die Untersuchung der spanischen Behörden gegen die chinesische Industrie- und Handelsbank, welche der Geldwäscherei angeklagt wird, weil sie etwas mehr als eine Milliarde Euro über Konten von unwissenden Bankkunden aus Europa nach China verschoben haben. Wir trinken dabei nicht etwa auf die Aufdeckung eines besonders schweren Falls, eine Milliarde Euro ist im Handel und Bankgeschäft zwischen China und dem Ausland ein Klacks, sondern weil wir die Volksrepublik China damit auf einer weiteren Ebene begrüßen dürfen im Kreis der westlichen Industrie- und Handelsbanken, deren Geschäftspraktiken auch so alle fünf bis zehn Jahre unter die Lupe genommen werden, wenn irgend ein besonders blöder Jung- oder Altspund wieder mal übertreibt. Der Chinese ist auf allen Ebenen unter uns angekommen, nicht nur durch Firmenübernahmen, sondern auch bei solchen Doof-Transaktionen, und dass die spanische Polizei unterdessen nicht nur Arabisch, sondern auch Chinesisch spricht, sagt mehr oder weniger alles aus zum aktuellen Stand der Weltwirtschaft.