Der Nagezahn der Zeit: Maus & Ratte in der indoeuropäischen Mythologie

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Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Wirtschaft/Soziales, Internationales, Religion, Umwelt, Kultur
Serie: Objekt IV
Entstehung

AutorInnen: hike
Radio: RUM-90,1, Marburg im www
Produktionsdatum: 24.07.2018
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Ratte und Maus begleiten den Menschen schon seit seiner Sesshaftwerdung und be­schäftigen die menschliche Phantasie seit­her durch ihre Anpassungsfähigkeit und All­ge­genwart. Sie sind weltweit in Sagen, Legenden und Erzäh­lun­gen anzutreffen. Maus & Ratte werden verehrt und gehasst, und dies oft gleichzeitig.

Eine Sprache transportiert nicht nur Worte, sondern mit diesen auch kulturelle Werte und Ideen. "Maus" ist eins der ältesten Worte über­haupt. Maus & Ratte (und Marder, Maulwürfe etc.) wurden sehr lange mit dem gleichen Begriff bezeichnet.

Dieser alle Kleintiere umfas­sende Begriff ist eine regelrechte Idee von "Maus" (lat. "mus", griechisch "mys") und hat tiefe Wurzeln in der indoeuropäischen Sprache. Nach Hage­mann liegt das Sanskrit­wort "musch" zugrunde, das er mit "Stahl" übersetzt. Das Sanskrit-Lexikon übersetzt "mU3S" (Original-Schreib­weise) mit "Maus", stellt aber bei "muS" schon alle Verbindungen zu stehlen, zerstören, wegtragen - und "übersteigen, überwinden" (surpass) - her. Die gleiche Information bekam ich von Dr. U. Rösler (Fachbereich Indologie, Uni Marburg), die ebenfalls auf die sehr frühe Verbindung von "Dieb, stehlen" und "Maus" hinwies, die in den meisten Kulturkreisen vorhanden ist. Macken­sen leitet das Wort über lat. "movere" aus einer hypothetischen Wurzel "meu, bewegen" ab, der Duden von einem indoeuro­päischen Wort für "stehlen, Dieb".
Auch im Chinesischen werden Maus und Ratte mit einem gemeinsamen Namen bezeichnet: "Maus" steht in chinesischen Metaphern für "Schurke", und der alte chinesische Name für Maus (shu) ist haozi = Dieb.

In Legenden und Mythen sind Maus & Ratte häufig mit ihren natürlichen Gegen­spielern Katze & Wiesel gekoppelt, was nach dieser Einleitung nicht wirklich überrascht. Erzählungen der Maus&Katze- Art nehmen zu, sobald die Hauskatze in einem Kulturkreis ver­füg­bar ist, und ver­drän­­gen die älteren Erinnerungen, bis nur noch "unerklärliche Bräuche" übrig bleiben.
Daher ist es schwierig, die Geschichten zu deuten, in denen die Maus nicht nur in Indien, sondern sogar in Europa als positives Symbol steht und z.B. zu Füßen eines Heiligen ruht, ohne dass dieser für das Abwenden einer Mäuseplage bekannt ist. Wie kommt die "Dieb-Maus" zu dieser großen Ehre?
Ein weitgehend vergessener Aspekt der Maus ist ihre mythologische Zuordnung zu den "Gewitter-Wesen". Sie war als heiliges Tier dem alt­indischen Gott Rudra ("der Brüllende") zuge­ord­net, der für Naturge­wal­ten wie Sturm, Wolken und Gewitter ver­ant­wort­lich war. In Griechenland über­nahm diese Aufgabe Apollo, (der als Gott der Güte und als "Mäusegott" bekannt ist), in Ger­manien war Wotan (abge­leitet vom indischen Wâta = Wind) An­sprech­partner für alles, was am Himmel tobt. Der Blitz wurde mit einem leuchten­den Tier­zahn gleichgesetzt, und einen sol­chen besitzt neben dem im­posan­ten Keiler (Wild­schwein-Eber) auch unsere "Maus". So kam sie an die Seite der Wetter-Gottheiten.

Dies er­klärt einige skurrile Bräuche des Mit­tel­­alters, die sich auf Zahnweh beziehen:
Hat ein Kind einen Zahn verlo­ren und will es schnell einen neuen haben, legt es den ausgefallenen Zahn in ein Mäuse­loch und spricht: "Mäuschen, ich geb dir einen knö­chernen, gib du mir einen eisernen."
Wenn ein Kind schwer zahnt, bindet man ihm einen abgebissenen Mäuse­kopf in einem Tuch um den Hals.
Isst man von einem Brot, an dem eine Maus genagt hat, so bekommt man keine Zahnschmerzen.
Und wenn in der Antike Plinius bei Schlan­gen­bissen empfiehlt, zerschnittene Mäuse auf die Wunde zu legen, was auch "Pfeile aus der Wunde zieht", liegt dem ebenfalls die mythische Verbindung zwischen Blitz und Zahn zugrunde.

Auch der bekannte indische Elefanten­gott Ganesha reitet auf einer Maus/Ratte. Dies wird manchmal erklärt als "Überwin­dung der Furcht des Elefanten vor der Maus", doch viel begreiflicher wird Ganeshas Wahl seines Reittieres, wenn man den vorherigen Mythos zugrundelegt. Wozu der Gott der Hindernisse die Maus braucht? Sie kommt überall hinein.

[Exkurs]
Maus und Elefant
- ein beliebtes Thema, das in Deutschland z.B. durch den WDR (Sendung mit der Maus) zum Kult wurde. Doch was hat es mit der "Furcht des Elefanten vor der Maus" auf sich?
Elefanten mögen es gar nicht, wenn sie bei Tieren die Beine nicht erkennen können. Und ihre Augen sind nicht sehr gut. Daher reagieren sie ungehalten, wenn ein sehr kurzbeiniges Tier in ihre Nähe kommt - das kann außer Maus, Ratte, Spielzeugauto und Chihuahua auch ein durchs Zoogehege lau­fender Igel sein.
[/Exkurs]

Der Apollo-Tempel auf Pontis zu Tenedos wurde von griechischen und römischen Historikern in allen Einzelheiten beschrie­ben: lebensnahe Mäusedarstellungen zierten den Marmorschrein, und unter dem Altar lebten weiße Mäuse, die auf Staatskosten gefüttert wurden. Zu Füßen der Statue Apollos befand sich eine riesenhafte Maus. Der Kult mit den Mäusen hatte im Mittel­meer­­raum 3000 Jahre lang eine weite Ver­breitung, und mindestens 2000 Jahre lang wurden weiße Mäuse in Tempeln gezüch­tet. Wenn Feldmäuse die Felder leer­fraßen, wurde Apollo geopfert, weil man meinte, ihn irgendwie beleidigt zu haben. Die letz­ten Reste des Kultes ver­schwan­den wahr­scheinlich um 1453 n.Chr. mit dem Einmarsch der Türken.

Das Verhalten von Mäusen wurde seit der Antike zur Vorhersage genutzt (unter ande­rem zur Erdbeben-Vorhersage): der Spruch "die Ratten verlassen das sinkende Schiff" hat eine mittelalterliche Entsprechung in "Wenn ein Haus alt wird und einzustürzen droht, verlassen es die Mäuse".
Im alten Griechenland und in Rom wurden laut pfeifende, heftig aneinanderspringende Mäuse als Omen (z.B. für Gewitter) ange­sehen, wie Aelian (um 200 n.Chr.) berich­tet. Aelian berichtet auch, dass sich die Mäuse in Niederägypten aus Regen­trop­fen entwickeln, Plinius läßt die Mäuse Ioniens durch das Überfließen des Flusses Neander zustandekommen.
Das massenhafte Auftreten oder auch Er­schei­nen ungewöhnlich gefärbter Mäuse wurde in allen möglichen Kultur­kreisen als Omen gedeutet (im Mittelalter meist als schlechtes). Kein Wunder: nicht nur Hoch­wasser und zusammen­brechen­de Bau­wer­ke, son­dern auch Seuchen wie die Pest trieben die Nager aus allen Löchern. (Zum Thema Pest siehe auch RG 7/1994, 21 & 24/1997, 45/2001).

Die weiße Maus wurde in fast allen Kulturen als "gut" angesehen. In Japan ist sie das Begleittier des Wohl­stands-Gottes Daikuko, in Tibet hält der Reichtums-Gott Kubera eine Ratte auf seiner Hand, die einen Edelstein aus­spucken soll (da war "der Blitz" wieder!) (RG 21). Die chi­ne­si­schen Priester be­nutz­ten weiße Mäuse zu Vorher­sagen, und die chinesische Regie­rung vermerkte akribisch jedes Erscheinen albinotischer Exemplare in freier Wildbahn. Von 307-1641 n.Chr. wurden 30 wilde weiße Mäuse registriert.
Die Maus wird auch wegen ihrer Listigkeit verehrt, wie am Beispiel der asiatischen Tierkreiszeichen zu erkennen ist: Von Tur­kestan bis Japan ist es üblich, jeweils 12 Jahre in einem Zyklus zu­sam­menzufassen, wobei das erste Jahr immer als "Maus" bzw. "Ratte" be­zeich­net und besonders hervorgehoben wird (s. auch RG 21/1997). Oft hat die Maus den Wettlauf durch eine List gewonnen, z.B. indem sie dem Ochsen kurz vorm Ziel vom Rücken sprang.

Früher sah man Mäuseplagen als Gottes­strafe an. Daher haben viele alte Be­kämpfungs­maß­nahmen mythischen und magischen Charakter. Im Winter fütterte man die Mäuse in der Scheune, damit sie das lagernde Getreide und die kommende Saat verschonen möchten.

Das mythische "Gewittertier" blieb auch in mittelalterlichen Hexen­prozes­sen erhal­ten: die Angeklagten wur­den gefragt, ob sie Mäuse gemacht hätten. Hexen konnten nämlich nicht nur Hagel und Blitze erzeu­gen und über die Felder ihrer Feinde schicken, sondern auch Mäuse.

Die alten Ägypter verehrten nach Ein­füh­rung der nubischen Katze nicht mehr die "Naturgewalt Maus", sondern ihren Feind in Form der Katzengöttin Bubastis. Die Einführung der Katze in Europa um die Zeit Karls des Großen ist ebenfalls eine interessante Geschichte.

Der biblische Moses hat seine Abneigung gegen Mäuse in Ägypten gelernt: "... und da wird sein Abscheu für dich zwischen den kriechenden Dingen, die da auf der Erde kriechen, als da sind Wiesel, Maus, Schild­kröte..." (Buch Leviticus) - bei Berührung besagter Tiere wird Moses tot umfallen und "unrein sein".
Die Mäuse-Abneigung zieht sich allerdings nicht durch das ganze Alte Testament: Der jüdische Prophet Samuel empfahl 1050 v.Chr. goldene Mäuse­bilder als Sühneopfer. Um 1000 v.Chr. schleppten die Philister dem Para­typhus ein: daraufhin wur­den Jahwe gol­dene Gefäße geopfert, die Mäuse und menschliche Körperteile darstellten. (Solche Opfer waren auch in Deutschland und Skandi­navien bekannt.)
Jahwe strafte außer­dem die Philister, die die Bun­des­lade ge­stoh­len hatten, mit Mäuse­plagen (!).
Nicht nur in Asien und Indien, sondern auch im Europa des frühen Mittel­alters galt der Glaube, dass Mäuse menschliche Seelen verkörpern (der Rattenfänger von Hameln lässt grüßen!). Auch das hat seine Wurzeln im Gewittertier-Mythos: Man stellte sich die Entstehung des Blitzes ähn­lich vor wie die Entstehung eines Feuers, nämlich "durch Drehen eines Stabes des ver­lösch­ten Son­nen­rades". Dieser Vorgang wurde gleichzeitig als Zeugungs­akt begriffen. Ebenso wie Mäuse angeblich durch Gewit­ter entstanden, sah man im Gewitter also auch die "Zeugung des himm­lischen Fun­kens", der die Seele darstellt, was schnell zu einer Verbindung der Begriffe "Maus" und "Seele" führte. Unter Seele verstand man den Atem oder Hauch, der in der Brust des Menschen wohnt und "durch den Mund aus- und einschlüpft wie eine Maus". Nun fehlte nur noch der Transport der Seele auf die Erde zum Menschen, denn sie mußte ja irgendwie vom Himmel herunter kommen: hierzu waren Vögel geeignet. Die Ge­schich­te vom Klapper­storch, der die Kin­der bringt, belegt diesen Mythos. Doch die Verbindung Seele-Maus ging viel weiter: nach dem Tode verläßt die Seele den Körper ja wieder, und die reinen Seelen, beson­ders Kinderseelen, stiegen als weiße Mäuse auf zur lichten Geisterschar (hierzu brauchen sie merkwürdigerweise keine Hilfe durch Vögel, was deutlich macht, welche verworrenen Wege eine mythische Idee nehmen kann), die unreinen, bösen, "gottlosen" Seelen stiegen als schwarze Mäuse hinab ins Dämonenreich.

Johannes Praetorius (1630-1680) schildert die Geschichte einer Magd, deren Seele beim Schlafen als rote Maus aus dem Mun­de kriecht. Als ihr ruhender Körper gewen­det wird, fällt ihr Haarzopf vor den offenen Mund. Die Maus kann deswegen nicht in den Körper zurück, und die Magd stirbt. Auch einige Märchen behan­deln das Thema "Maus-Seele".
Dem alten Volksglauben zufolge darf man nicht durstig schlafen gehen, weil sonst die Seele den Körper verläßt, um trin­ken zu gehen. Nun versteht man auch den Ratschlag, warum Kinder nicht mit offe­nem Mund schlafen sollen: die Seele könnte in Form einer weißen Maus davon­huschen.

Zurückgekehrte Seelen-Mäuse versam­mel­ten sich also in der Geisterschar. Bei den Indern hießen diese Geister Maruts und bei den Germanen Elfen und Wichte. Sie konnten als gute oder böse Wesen in Er­schei­nung treten und traten oft in ihrer Mäusegestalt auf; ein Kaufmann, der eine hungernde Maus gefüttert hatte, soll zu Reichtum gekommen sein. Aber auch der Teufel ritt im mittelalterlichen Volks­glau­ben auf einer Maus (Bedeutung des Reittieres siehe weiter oben) und besuchte so seine Hexen. Mäuse sollten des weiteren den Körper be­ses­sener Frauen befallen können, und zwar als gute oder böse Geister.

Gelegentlich traten Mäuse auch als Rächer der Unterdrückten auf: Ein Tyrann, der in Zeiten des Hungers hart zum Volk ist oder Unschuldige ermordet, wird von Mäusen aufgefressen. Hatto, dem Bischof von Mainz, widerfuhr ein solches Ende: er ließ während einer Hungersnot arme Leute, die bei ihm Korn kaufen wollten, gefangen nehmen und verbrennen. Als sie im Feuer vor Qualen schrien, sagte Hatto: "Sie singen wie die Mäuse". Da kamen die Mäuse (= Seelen!) in hellen Haufen aus dem Feuer gerlaufen, um ihn bei leben­digem Leibe zu fressen. Hatto floh auf eine Insel im Rhein und ließ den Binger Mäuse­turm bauen, der ihn aber nicht schützte. Die Mäuse durch­schwammen den Rhein und verschmausten ihn trotzdem. Ähnlich lautende Sagen gab es in der Schweiz, Polen, Dänemark, Böhmen (Mäuseschloss im Hirsch­berger Teich) und Österreich (Mäuse­schloss bei Holzölster).

Als ursprüngliche Sturmgeister lieben die Mäuse Musik - ebenso wie die indischen Maruts und germanischen Elfen. Wenn einer sagt: "Du singst ja die Maus aus dem Haus", dann bedeutet das, der so Ange­sprochene singt wirklich schlecht. Zum Ratten­­fänger mit seiner Flöte muss ich nichts sagen. Mäuse und Ratten lassen sich mit bestimmten Pfeif­tönen und Rhythmus-Mustern tatsäch­lich anlocken.

Die meisten alten Bräuche zur Mäuse­ver­treibung fallen ins Frühjahr. Während des Glockengeläuts wird z.B. empfoh­len, mit dem Schlüsselbund zu rasseln, da die Win­ter­dämonen ein gewit­ter­ähnliches Ge­räusch wie Trom­meln und Glocken­läuten nicht wahr­neh­men können.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts mochte man sich mit der Maus (und Ratte) nicht wirklich wissenschaftlich auseinandersetzen, was z.B. Ludwig Heck (Bearbeiter des Bandes "Nagetiere" von BREHMS TIERLEBEN) 1914 mit folgenden Worten begründete: "Mit Ungeziefer pflegt man sich nicht aus Liebhaberei zu befassen." - Diese heute unwissenschaftlich und peinlich wirkende Auffassung hat es tatsächlich bis ins "Urania Tierreich" von 1992 (Band 6) geschafft! - Die wissenschaftliche "Anfreundung" mit Maus und Ratte fand erst in ameri­kanischen und euro­pä­ischen Labors statt. Aber das ist ein anderes Thema, selbst wenn in diesem Artikel die Wurzeln solchen Denkens etwas beleuchtet wurden.
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(Text 2003 HikE; erstmals erschienen im RattGeber)
Literatur:
Drosdowski, G.: Duden Etymologie. 2. Auflage 1989
Hagemann, E.: Nagetier Maus. Orion-Bücher 128, Lux, 1959
Hsieh, Shelley Ching-yu: Tiermetaphern im modernen Chinesischen und Deutschen. Dissertation FB Kulturwissenschaften Tübingen, 2000
Mackensen, L.: Ursprung der Wörter. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. VMA, 1985
Cappellers Sanskrit-Dictionary online, www.uni-koeln.de/phil-fak/indologie/tamil/cap-search.htm

Kommentare
29.08.2018 / 18:03 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 29.8.. Vielen Dank. Sehr informativ!