"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Professor Dean Karlan -

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Professor Dean Karlan von der Universität Yale hat herausgefunden, welche Methoden zur Armutsbekämpfung wirklich etwas taugen. Es geht hier natürlich nicht um Hartz IV und solche Dinge, sondern um die materielle Armut in der Dritten Welt, welche häufig auch Elend genannt wird, also um jene Milliarde Menschen, welche pro Tag weniger als 1 US-Dollar und 25 Cents zur Verfügung haben, um die so genannten Ultraarmen.
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10:36 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.06.2015 / 09:26

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Umwelt, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 23.06.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Karlan und seine Kollegen erarbeiteten eine randomisierte kontrollierte Studie über verschiedene Armutsbekämpfungsprogramme, natürlich unter Beizug einer Kontrollgruppe, und konzentrierten sich schließlich auf den «Graduation Approach», bei dem die Programmteilnehmenden irgendwelche produktiven Anlagewerte zur Verfügung gestellt erhalten. Auf Armutsniveau sind dies zum Beispiel ein paar Stück Kleinvieh oder Handelswaren. Begleitend dazu gibt es Schulungsprogramme, um diesen Ärmsten der Armen beispielsweise beizubringen, dass sie die erhaltenen Ziegen nicht sofort schlachten und aufessen sollen, sodann Anleitungen zum Sparen und wöchentliche Coachings zur Bewältigung unerwartet auftauchender Probleme usw. Die Ergebnisse sahen so aus, dass in den entsprechenden Programmen, die über 9 Jahre hinweg bei über 21'000 Erwachsenen auf 3 Kontinenten untersucht wurden, innert Jahresfrist pro investierten Dollar ein Ertrag von 1 Dollar 33 Cent bis zu 4 Dollar 33 Cent erzielt werden konnte. Vorbehalten ist das einwandfreie Funktionieren der Programme, dass also nicht gerade ein Machtwechsel stattfindet oder eine Dürre eintritt oder dass, wie in einem Fall in Zentralamerika, eine Seuche das gesamte Investitionsgut, nämlich Geflügel, dahin rafft.

Ebenfalls interessant ist bei dieser Studie die Feststellung, dass die Mikrokreditprogramme, für welche Herr Yunus vor zehn Jahren sogar den Friedens-Nobelpreis entgegen nehmen durfte, zwar durchaus ihre Beiträge leisten, aber keineswegs geeignet sind, die Ärmsten aus ihrem Elend zu erlösen.

Nicht inbegriffen in der Rechnung ist der Lohn von Professor Dean Karlan und seiner Assis­ten­tin­nen, die Reisekosten sowie die Entschädigungen für all die wissenschaftlichen Gremien und die hochkarätigen Mitökonomen, welche die Studie begleiteten, und ebenfalls nicht beziffert werden die Aufwände für die westlichen und lokalen Entwicklungshelferinnen in den Programmen selber. Sowieso nicht inbegriffen ist der CO2-Ausstoß, aber dies mehr als Randnotiz für Organisationen, welche Autoabgase durch Kompensationszahlungen rein waschen. Darum geht es hier nicht.

Nehmen wir trotz allem einen durchschnittlichen Investitionsertrag von 200% und nehmen wir eine durchschnittliche Investition von fünf Hühnern an. Da verfügt also der ins Programm verwickelte Armutsbetroffene nach einem Jahr über fünfzehn Hühner, wovon er die ersten fünf verwertet hat. Aus den verbliebenen zehn macht er im nächsten Jahr 30 und verwertet davon erneut einen Drittel, im dritten Jahr hat er somit 60 Hühner, macht mit 40 weiter und steht im vierten bei 120, minus 40 mal drei macht 240 im fünften, 160 mal drei macht 540 im sechsten, im siebten steht er über 1000, und im zehnten Jahr wird er entweder Präsident der globalen Eierlegervereinigung oder ins Gefängnis gesteckt wegen zu hoher CO2-Emissionen.

Und insgesamt ist dies nichts anderes als ein weiteres, übrigens schon von den Gebrüdern Grimm bekanntes Märchen, aber eines mit Hintergrund und Gehalt: Ohne solche pseudowissenschaftlichen Erhebungen funktioniert die gesamte Legende von der Entwicklungshilfe beziehungsweise der Ent­wick­lungs­zu­sam­men­arbeit nicht. Will sagen: Ohne solche Märchen können die Entwicklungshilfe-Budgets der entwickelten Länder nicht weiter gerechtfertigt werden. Und das wäre auch wieder schade, nicht nur wegen der doch recht anständig bezahlten Entwicklungshelferinnen und –helfer, welche den Großteil der Budgetsummen verzehren und somit nicht die Arbeitslosenzahlen in die Höhe treiben, sondern vor allem wegen des Austausches, wegen der Kommunikation, wegen des Wissens­trans­fers, und damit meine ich keineswegs etwa den Transfer von Knowhow oder Technologie in die Entwicklungsländer, sondern umgekehrt den Transfer von Erfahrungen, Wissen und Einsichten aus diesen Ländern in die entwickelte Welt. So etwas würde ohne die Ent­wick­lungs­hel­fe­rInnen-Bri­ga­den nie funktionieren. Weiter so, meine Damen und Herren, weiter im Text, weiter mit der Armutsindustrie, welche zwar eine etwas unanständige Grundlage hat, indem die erwähnten 1 Dollar 25 pro Tag als Grundlage dienen für Professorengehälter von eintausend Dollars pro Tag, aber sie ist eben doch zweckdienlich, indem sie uns die Augen öffnet für die Realitäten auf dem gesamten Erdball und nicht nur für die beschränkte Luxusrealität in den entwickelten Ländern.

In der Sache selber, nämlich in der Kosten–Nutzen-Frage, haben die Ärmsten der Armen aber schon länger und besser gerechnet als die Entwicklungsökonomen. Sie stützen sich dabei vor allem auf eine Erfindung der neuesten Zeit, nämlich auf die Mobiltelefonie. Dank dieser Mobiltelefonie weiß man unterdessen auf dem gesamten Planeten und insonderheit in den Dörfern Afrikas, dass es weitaus lohnender ist, in die Emigration einzelner Individuen zu investieren als in einen Hühner­stall. Es handelt sich hier natürlich um Risikokapital mit einer relativ hohen Ausfallquote, aber wenn es seinen Zielort erreicht, winken Erträge von deutlich über einem Dollar fünfundzwanzig pro Tag. So ein Emigrant kann im Idealfall einen ganz oder fast regulären Job in Europa erhalten und dann von seinen tausend Euro Gehalt monatlich ein gutes Drittel nach Hause senden. Zudem leistet er einen Beitrag zum Ausbau der Infrastrukturen im Zielland, was bedeutet, dass möglicherweise schon bald weitere Gemeindemitglieder nachstoßen können. Dies ist aus Sicht der Armuts­betrof­fenen eindeutig die beste Entwicklungsperspektive. Es ist auch eine Antwort auf die offensichtliche Unmöglichkeit, in ihren Siedlungsräumen so etwas wie ein modernes Staatswesen mit vernünftigen Infrastrukturen auf die Beine zu stellen.

Diese Entwicklung haben die Entwicklungsökonomen nach meinen Beobachtungen bisher nicht so richtig analysiert. Aus diesem Grund wird das Thema auch bei uns nach wie vor eher unter dem Haupttitel Asyl und Flüchtlinge diskutiert, während es sich doch um eine ganz normale Kapital­bewegung handelt. So, wie die entwickelten Staaten Rohstoffe, Nahrungsmittel und Halb­fertig­pro­dukte aus der Dritten Welt beziehen, so drängen jetzt die Bevölkerungen selber in steigender Anzahl in den Norden. Global gesehen gibt es dabei interessante Unterschiede. In Asien hat die Modernisierung schon vor der Verbreitung der Massenkommunikation in riesigem Ausmaß eingesetzt; in Amerika bildet Mexiko mehr oder weniger den Wall oder die Mauer, welche den Migrationsdruck in die Vereinigten Staaten aufhalten soll, wobei der Preis dafür der radikale Zerfall der staatlichen Hoheit im ganzen Land ist, was ich auch für gründlich ungesund halte. Der Nahe Osten hätte heute insgesamt vermutlich eine vormoderne autoritäre Struktur, innerhalb derer die wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf der Grundlage der regionalen Erdölvorkommen von sich gehen würde, aber in der Praxis hat bekanntlich eine Mischung aus religiösem Fundamentalis­mus und den US-republikanischen Bush-Präsidenten für das aktuelle Chaos gesorgt, das ich vorderhand nicht in ein System einordnen möchte. Und eben, in Afrika südlich der Sahara verbreitet sich das Reisefieber auf der Grundlage umfangreicher Prospektinformationen für die Länder Europas, und es bleibt aus neutraler Sicht überhaupt nichts anderes übrig, als eine solche Logik für geradezu umwerfend richtig und konsequent zu halten.

Ich muss zugeben, dass ich die Migration lange unterschätzt habe, eben unter den Titeln Asyl und Flüchtlinge. Ich war aus ideologischen Gründen gar nicht in der Lage, die Bewegung in ihrem Umfang und Potenzial überhaupt wahrzunehmen; allzu sehr gingen mir jene Idioten auf den Geist, welche vom Abendland sprechen beziehungsweise von seinem Untergang oder von der Islamisierung Europas oder von was auch immer. Damit haben weder Asyl noch Flüchtlingswesen noch die Migration etwas zu tun, das ist auch jetzt völlig offensichtlich. Ich habe solche Denk­muster oder Reflexe immer für weitgehend unerklärliche Strömungen im Geistesraum gehalten, deren Erstarken ich darauf zurückführte, dass die linken Geistesströmungen mit den dazu gehörigen Grundwerten keinerlei gesellschaftliche Relevanz mehr hätten. Wenn man sie aber als sozusagen instinktive Reaktion begreift auf eine im Entstehen begriffene neue Struktur, dann sieht das doch etwas anders aus, und ich bin im Moment geneigt, diese Interpretation für zutreffend zu halten. Da bahnt sich tatsächlich etwas an.

Von dem Moment an, in dem ich die Migration als neues, erhebliches und konstituierendes Element der europäischen Wirklichkeiten auffasse, muss ich das gesamte System sozusagen neu berechnen. Alle politischen Debatten werden um eine zusätzliche Ebene angereichert. Einerseits werden die mehr oder weniger linearen Prozesse der letzten Jahre zunehmend unter­brochen, sei es bei der Wohlstandsvermehrung oder bei den Institutionen, zunächst bei der sozialen Sicherung, aber in unserem auf Arbeitsplätzen zentrierten System halt eben auch bei den Arbeitsplätzen bezie­hungs­weise bei den Arbeitsmechanismen, welche mit ihrer eigenen Dynamik am sichersten für so etwas wie Integration sorgen.

Dabei weiß ich noch nicht mal besonders genau, mit wie vielen Menschen man per Saldo wird rechnen müssen. Zweihunderttausend pro Jahr? Fünfhunderttausend? Eine ansehnliche Zahl, aber auch wenn es eine Million wäre, angesichts einer Bevölkerung von 750 Millionen, wovon um die 500 Millionen in den reicheren Ländern lebt, hat der Zustrom noch nicht wirklich bedrohliche Formen angenommen – und wird es wohl auch nicht. Aber es reicht, um die Gleichgewichte durcheinander zu bringen, und es reicht vor allem, um bereits bestehende Schieflagen noch schiefer zu machen.

Es ist nicht auszuschließen, dass die Migranten zum Teil mit dem Problem auch gleichzeitig seine Lösung mit bringen; da sie in der Regel aus ökonomischen Gründen nach Europa kommen, kann und muss man sie auch als Wirtschaftsfaktoren ansehen mit ihren eigenen Bedürfnissen und mit ihrem eigenen Potenzial. Sie können sozusagen ihr eigenes Wachstum schaffen. Aber bis dies mal in eine greifbare Politik umgesetzt ist und bis vor allem das Verständnis um sich greift, dass es in der globalisierten und kommunikativ voll vernetzten Welt einfach nicht mehr denkbar ist, einen ganzen Kontinent als Festung auszubauen und den diesem Kontinent innewohnenden Reichtum vor dem Rest der Welt zu beschützen wie Dagobert Duck seine Taler im Tresor, bis es soweit ist, wird es noch ein paar Wochen dauern.

Eines aber steht fest: Die Bevölkerung in unseren Ländern muss sich ein Bewusstsein bilden zu diesen neuen Wanderbewegungen, und zwar nicht eines, das sich nach der Vergangenheit richtet, sondern eines, welches die gesamte globale Dimension der Migration mit einschließt.