"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Constanze Lindner

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Wenn der verdiente Kabarettist Willy Astor auf die Bühne klettert, weiß man wenigstens, weshalb die Menschen im Saal auf Stühlen sitzen, nämlich damit sie nicht auf den Boden purzeln, wenn sie sich kringeln vor Lachen, und man fragt sich: Weshalb nur?
Audio
11:01 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 09.05.2017 / 11:36

Dateizugriffe: 1536

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Frauen/Lesben, Umwelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 09.05.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
A propos Nuhr: Bei Dieter Nuhr weiß man ungefähr, woher das Lachen kommt, hier schaut das Publikum zu, wie der Nuhr mit der Miene des Geheimbündlers eine Pfütze über den Tisch bläst, und wenn sie über die Kante rutscht, dann ist Pointe, und der Saal applaudiert. Aber bei Willy Astor? Ich erinnere mich schwach an Späßchen aus früheren Zeiten, zum Beispiel über einen Hardware-Spezialisten mit seinem Motherboard – jaja, sowas gab's früher mal –, der in der Mutter bohrt. Er bohrte in der Mutter, meine Damen und Herren. Erinnert mich stark an jenen anderen Teufelskerl, der vor zehn Jahren mal Kult war, wie hieß der nochmals, Helge Schneider wohl, einfach ohne Helge Schneider. Heute ist der Astor wieder zurückgekehrt zum einfachen Namen-Kalauer, die kann ich mir nicht merken, ich kann bloß versuchen, sie typähnlich zu rekonstruieren: Die Feuerwehr aus Passau kommt neuerdings nach Ingolstadt, wenn's do brinnt. Ich liefere für ein geneigtes Publikum in Erfurt den Schlüssel gleich hinterher: Es geht um einen Herrn Dobrindt, daher der Witz: wenn's do brinnt. Dobrindt ist ein bayrischer CSU-Politiker, gegenwärtig Euer Verkehrsminister, bekannt für seine Verrenkungen bei der Maut, die gegen EU-Recht verstößt, und über diesen könnte Willy Astor eben mit dem erwähnten Witz lästern: Die Feuerwehr kommt nach Ingolstadt, wenn's do brinnt. Aber nicht dies macht das Rätsel Astor aus, sondern die Tatsache, dass Dutzende, wo nicht Hunderte von Damen und Herren für diese Sorte Witz Eintritt bezahlen und sich wie erwähnt kringeln vor Lachen. Do kimmt's, do brinnt. Dies, geschätzte Hörerinnen und Hörer, ist für mich ein echtes Parallel­uni­versum. DAS IST NICHT LUSTIG, möchte man den Bayern zubrüllen, aber sag das mal einem Saal voll prustender, keuchender und begeistert zwischen den Fingern pfeifender, vielleicht sogar Linksliberaler!

Kürzlich habe ich ein bayrisches Ratatouille beziehungsweise einen Zusammenschnitt aus histo­ri­schen Kabarettaufzeichnungen gesehen, wobei historisch hier bedeutet: aus der zweiten Hälfte der nuller und der ersten der zehner Jahre des neuesten Jahrtausends. Aufgefallen ist mir dabei in erster Linie, dass das Saalpublikum vor zehn Jahren im Durchschnitt um 50 Jahre jünger war als heute. Das ist interessant. Offenbar führt der regelmässige Kabarettgenuss zum vorzeitigen Altern. Wei­tere Einsichten habe ich nicht getätigt. Dagegen ist mir, immer noch im Freistaat Bayern bezie­hungs­weise dem ihm zugehörigen Bayrischen Rundfunk und innerhalb dieses Rundfunks in der Comedy-Reihe «Die Komiker», eine Frau aufgefallen, die dort jeweils wie ein Kugelblitz über die Bühne rollt und donnert und die allerbesten komödiantischen Leistungen auf die Bretter legt wie früher zu den Zeiten des großen Volkstheaters, mit Namen Constanze Lindner. Weckte die also so lange meine Neugierde, bis ich mich entschloss, die Frau einmal im echten Leben, also außerhalb des Bayrischen Rundfunkes und in Bayern und lebensecht auf der Bühne anzuschauen, was dann vor ein paar Wochen auch stattfand, und zwar in einem Landgasthof in Rohrbach an der Ilm. Es ist nicht dieselbe Ilm wie jene, die durch Weimar fließt, sondern eine andere, die sich weiter unten in die Donau ergießt, und zwar in Ingolstadt, ja genau, da wo's brinnt. Wir saßen da also zu zweit in einem währschaften Saal vor einem währschaften Schweinebraten und so weiter und so fort, und wir saßen weit genug hinten im Publikum, um von Frau Lindner nicht geherzt zu werden, denn das tat sie ausgiebig. Es zeigte sich im Verlauf der Sendung beziehungsweise des Abends, dass Frau Lindner mit ihrem Soloprogramm noch nicht auf jener Höhe angelangt ist, wo ihr komödiantisches Talent sich mit einem tiefsinnigen oder absurden Text ideal vermählt, und ich hatte den Verdacht, dass ihre Publikumsumarmungen nicht zuletzt diesem Mangel entsprangen beziehungsweise ihn halbwegs wettmachen sollten; ein ordentlicher Kabarettist mit dem zugehörigen Tiefgang ist nach meinem Geschmack eher ein Großmeister der Publikumsbeschimpfung, mindestens beherrscht er die elegante oder schroffe Kunst der Frustration der Publikumserwartung, denn nur daraus entsteht ein Witz, der seinen Namen verdient. Ich wiederhole mich: Ein Witz, der seinen Namen verdient, entsteht aus der Frustration der Erwartung des Publikums, nicht aus ihrer Bedienung. Punkt, Punktum und abermals Punkt.

In dem Zusammenhang ereignete sich noch ein weiteres Ereignis, zu dem ich kurz abschweifen will, nämlich hatten wir im gleichen Landgasthof ja auch ein Zimmer gemietet und reisten des­we­gen rechtzeitig an, um es auch rechtzeitig zu beziehen, und ich hatte mir zuvor auf Wikipedia oder meinetwegen auf Google Maps die Lage des Gasthofs im Verhältnis zum Bahnhof Rohrbach an der Ilm eingeprägt. Links lag eine Lagune oder ein Wasserrückhaltebecken, rechts lag der Gasthof, und die Straße führte durch eine Unterführung ins etwas entfernt gelegene Dorf. Stiegen wir also aus dem Zug aus, und ich erblickte zunächst nichts, in erster Linie nicht die Lagune. Da ich aber im Kopf ein Bild oder eine Vorstellung hatte, stiefelte ich los unter zunehmend lauten Protestrufen meiner Begleitung, die ich schließlich bat zurückzubleiben, damit ich mich ganz der Ver­ant­wor­tung für die Suche beziehungsweise das Finden von Lagune oder Gasthof widmen konnte. Stiefelte dann zehn Minuten voran, immer dem Bahngleise nach, bis dieses von der Straße abzweigte, wäh­rend die Straße von einer zweiten gekreuzt wurde, die zwar durch eine Unterführung lief, aber in keiner Art und Weise einen Gasthof in Aussicht stellte. Ging ich also zurück zu meiner feixenden Begleitung und dann mit ihr zum Bahnhof, und siehe da, in der anderen Richtung bot sich der Land­gasthof nach einer Minute Fußweg in seiner ganzen bayrischen Pracht und war dann auch noch voll­kommen überfüllt wegen einer Beerdigung, welche die ganze gastronomische Infrastruktur füllte.

Kamen wir also, sagen wir mal zwanzig Minuten zu spät in diesem Landgasthof an, und zwar aus­schließlich aus dem Grund, weil ich meine Vorstellung in meinem Kopf um 180° verkehrt gehalten hatte. Meine Begleitung verspottete mich reichlich und war verärgert, weil sie auf Toilette musste, einmal abgesehen davon, dass wir wegen der Beerdigung keinen freien Platz mehr fanden in dieser Gastronomie, aber wir hielten dann doch durch bis am Abend und zu Constanze Lindner. Um meine Ehre zu retten, entwickelte ich gegenüber meiner Begleitung folgende Betrachtung: Es mag ja sein, dass ich mich in der Richtung getäuscht habe, aber ich hatte doch immerhin ein Bild im Kopf, einen Plan, ich wusste, wohin ich gehen musste, und wenn ich den Plan im Kopf um 180° verkehrt gehalten habe, ändert das nichts daran, dass es eigentlich der richtige Plan war, und überhaupt: Wo kommt man hin ohne Plan? – Und da war ich schon beim Unterschied zwischen der europäischen Sozialdemokratie und den Konservativen, und zwar insofern, als ich wieder einmal ausführte, dass die Konservativen schon gar keinen Plan hätten, weil sie einfach die Apologeten des Bestehenden seien, während die Sozialdemokratie und noch schlimmer die Sozialisten und Kommunisten mit Plänen aus dem 19. Jahrhundert in der Welt des 21. Jahrhunderts herum stolperten. Dies schränkte ich sogleich wieder ein auf meinen Standard, dass die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst­verständlich eine sozialdemokratische Welt sei, welche grundsätzlich den Minimalstandards des sozialen Ausgleichs usf. usw. genüge, welche als Bestandteil des sozialdemokratischen Bildes vor hundert Jahren formuliert worden seien und heute mehr oder weniger überall in der entwickelten Welt Gültigkeit hätten und auch von den konservativen oder christlichen Parteien in die Praxis umgesetzt würden, nicht zuletzt deshalb, weil es sich um einen schieren ökonomischen Zwang handle, der damit begonnen habe, dass der Kapitalismus seine Güter schließlich und endlich auch absetzen müsse, was sich auf fast schon paradiesische Art und Weise mit den sozialdemokratischen Forderungen des Wohlstands für alle decke. Aber dies sei nun eben keinerlei Form mehr eines Bildes für die weitere Entwicklung in den entwickelten Gesellschaften. Und es sei nun die hehre Aufgabe, ein solches neu zu entwerfen, auch auf das Risiko hin, dass der erste oder zweite Versuch im Kopf vielleicht um 180° verkehrt dastehe, aber das könne man dann ja innerhalb von vernünftiger Zeit korrigieren. Und so weiter und so fort.

Bevor ich hier aber verfänglich werde, mache ich rechtsumkehrt und lasse mich in der Aktualität nieder und insonderheit bei den bevorstehenden Parlamentswahlen in Frankreich, wo man den Sozialisten bekanntlich einen epochalen Absturz vorhersagt, ähnlich wie der Labour-Partei in England. Ich muss zugeben, dass ich mich in Frankreich nicht übermäßig gut auskenne, aber ich gehe doch davon aus, dass die sozialistische Partei immerhin noch über ein paar Infrastrukturen verfügt, um einen ordentlichen Wahlkampf auf die Beine zu stellen. Das würde heißen, dass der Zusammenbruch nicht derart vollständig ausfällt, wie dies ein paar interessante und interessierte Menschen sich wünschen täten wie zum Beispiel der 31-jährige österreichische Außenminister Sebastian Kurz, der alles dafür tut, auszusehen wie seinerzeit der schneidige Karlheinz Grasser, welcher bei der Verscherbelung des österreichischen Staats-Tafelsilbers ein paar Millionen Euro eingesteckt hat und gegen den im letzten Jahr endlich Anklage erhoben wurde. Ich gehe davon aus, dass man dem Kurz in erster Linie deshalb das Außenministerium zugeschanzt hat, weil er im Ausland nichts verscherbeln kann.

Davon abgesehen ist der ideologische Zusammenbruch der sozialistischen Parteien in Frankreich und in England eine Tatsache. Die Überreste leben weiter, mindestens in Frankreich in der Form der sogenannt extremen Linken rund um Mélenchon, von dem ich aber bisher auch noch keinen vernünftigen Satz gehört habe zu seinem Bild für die weitere Entwicklung von Frankreich in Europa auf der Welt; vielmehr ist er mit Ausnahme der nationalsozialistischen Ausrichtung in seiner Argumentation praktisch deckungsgleich mit Marine Le Pen, was mich erheblich ärgert. Auf der anderen Seite freut es mich natürlich, dass es doch noch ein paar gallische Dörfer gibt in Gallien, welche die Sperenzchen des globalisierten Kapitalismus nicht einfach als natur- und gottgegeben hinnehmen; genau für dieses Natur- und Gottverständnis steht selbstverständlich der nun gewählte Präsident Macron. Das ist es nicht, was ich mit einem Bild meine, sondern ich spreche von einem Bild, das einerseits sehr wohl auf den Grundwerten der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, vor allem der individuellen Freiheit und eines guten Lebens für alle aufbaut, das aber anderseits auch die Realitäten der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung mit den gewaltigen technischen und kommunikativen Fortschritten nicht einfach ausblendet. Die Linke hat sich seit einiger Zeit verschanzt im Bereich der Verteidigung von irgendwelchen Rechten, insbesondere der Schwächeren in der Gesellschaft. Das ist zwar lobenswert, aber das ist alles andere als ein Programm oder eine politische Vorstellung, mit welcher man ausziehen kann, ganze Länder und überhaupt die Welt zu erobern.

Kommentare
30.08.2022 / 14:33 John, Radio F.R.E.I., Erfurt
Auszug verwendet im kleinen feinen großen FRN-Quiz 2022
Danke. Hier geht's zum Beitrag: https://www.freie-radios.net/117215