"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Nafta

ID 90810
 
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Wenn die IG Metall für die Tarifrunden im Herbst jeweils Forderungen nach sechs bis zehn Prozent mehr Lohn stellt, dann nimmt man das hin wie ein Naturereignis und weiß, dass es dann je nach Wirtschaftslage zwei, null-komma-zwei oder durchaus mal fast fünf Prozent werden können wie für dieses Jahr, je nach Branche und Region.
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10:33 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.09.2018 / 13:57

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Religion, Kultur, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.09.2018
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Aber im Herbst wird regelmäßig gejodelt, das gehört zum Spiel, so wie andernorts auch, zum Beispiel in Nordamerika beim Nordamerika-Freihandelsab­kom­men, das gegenwärtig unter viel Herbstgetöse und bilateral neu verhandelt wird. Ich habe mich, unter uns gesagt, nie sonderlich für die Details interessiert, und ich werde mich auch in nächster Zeit nicht zum NAFTA-Spezialisten entwickeln; meine Vorstellungskraft reicht einfach nicht aus für ein tief greifendes Zerwürfnis oder gar einen Handelskrieg zwischen zwei, drei oder meinet­we­gen zwei Mal zwei Ländern, deren Realwirtschaft, Kapitalflüsse und Besitzverhältnisse derart eng miteinander verknüpft sind wie in Kanada, den Vereinigten Staaten und Mexiko. Nach dem Ab­bruch der letzten Verhandlungsrunde zwischen Kanada und den USA am letzten Freitag brachte es die Reuters-Journalistin Gina Chon auf den Punkt: Die Bedeutung des trilateralen Abkommens für alle drei Länder liegt in der Sicherheit für Lieferketten, Produktionslogistik und Agrarabsätze. Aus diesem Grund können diese Verhandlungen gar nicht scheitern. Aber für ein saftiges Publikums­spek­takel sind sie alleweil gut.

Zu Chemnitz möchte ich mich am liebsten gar nicht äußern, aber soviel kann ich aus neutraler Sicht doch knapp angeben: All die braven Leute, die tief innen überzeugt sind davon, dass ihr Staat und die Politik und die Presse die Asylanten privilegiert vor den braven Leuten, all jene braven Leute, die von sich meinen, sie seien keine Extremisten und Rassisten, die mögen Extremisten und Ras­sisten sein oder nicht, aber eines haben sie mit diesen gemeinsam: Sie benutzen ihren Kopf nicht zum Denken, sondern zum «Jawoll» brüllen. Das aber ist so etwas wie die Erbsünde des modernen Menschen, es ist die Ent-Individuierung des Individuums. Und zudem missbrauchen sie einen, leider Gottes hunds­kommunen Mord oder Totschlag, darüber wird noch das Gericht befinden, für eine natio­na­lis­tische Verhunzung. Sie betreiben echte Leichenschändung.

Ich habe nichts davon gehört, dass diese braven Leute auf die Straßen gegangen waren, als die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds bekannt geworden sind. Ich weiß nichts davon, dass diese Leute sich empört hätten, als in den 1990-er Jahren in Ost­deutsch­land insgesamt 17 Asylanten vom rechten Mob umgebracht wurden – dies waren allerdings auch keine hundskommunen Morde und Totschlage, sondern dies waren tatsächlich Morde, die aus jener Gesinnung hervor gingen, wel­che die braven Leute jetzt auf der Straße zur Schau bringen. Gut – die 1990-er Jahre, das ist immer­hin zwanzig Jahre her, daran braucht man sich nicht unbedingt zu erinnern, beziehungsweise, wenn man zu denen gehört, welche die Mörder schon damals ganz toll fanden, dann hat das schon seine Richtigkeit.

Die braven Leute setzen sich auch gegen die Lügenpresse zur Wehr und beziehen ihre Information von Webseiten wie freie-presse.net, welche ihr «Jawoll»-Bewusstsein mit Sätzen imprägniert wie dem folgenden: «Während deutsche Gerichte in zweifelhaften Verfahren deutsche Angeklagte ohne hinreichende Beweise zu hohen Strafen verurteilen, kommt ein brutaler Mörder mit einer milden Strafe davon.» Der Mangel an hinreichenden Beweisen für solche Aussagen ist typisch, aber so etwas wie einen Beweis braucht ein braver deutscher Mann ja gar nicht, denn die Welt ist ohnehin klar. Und dass eine rechtsstaatliche Beweisführung sich vom Stammtischgerede in kleinen Details unterscheidet und unterscheiden muss, ist sowohl dem braven Manne als auch diesen gehetzten Webseiten egal.

Es ist ein Merkmal der «Jawoll» brüllenden Volksbewegung in Chemnitz und anderswo, dass es eine Bewegung ohne Füh­rer ist, vielleicht gerade deswegen, weil sich so viele einzelne Personen um diese Führerrolle strei­ten, aber vielleicht auch als Ausdruck eines neuen Typus, der keine richtigen Führer braucht und auch nicht auf ein ausdrückliches politisches Ziel hin arbeitet – dass die Ausländer raus müssen, ist nämlich kein solches Ziel, bei aller Freundschaft. Vielleicht handelt es sich wirklich um eine neuartige Koagulation antiintellektueller Formulierung, um eine Sorte von logikbefreiter Argumentation. Solange es dabei bleibt, sollte man die Bewegung eher wie eine Krankheit behandeln, und für die Behandlung schlage ich verschiedene Ohrfeigen-Kuren vor, aber solche Kuren sollte man sowieso allen verordnen, welche absichtlich die Unwahrheit sagen. Ich persönlich könnte mir ja die Einrichtung einer eigenen Polizeieinheit vorstellen, der Ohrfeigen-Polizei, welche bestehen täte aus lauter Personen, welche einen Universitätsabschluss in Wahrheitsfindung vorzuweisen haben. Genauer: Nach Abschluss des Studiums irgendeiner Form der Wahrheit, egal, ob in Philosophie, Soziologie oder Mikromolekularphysik, müssen alle Studienabgänger ein halbjähriges Praktikum in dieser Ohrfeigen-Polizei absolvieren, während dessen sie mindestens zehn gut dokumentierte Ohrfeigen an notorische Lügnerinnen und Lügner vorweisen müssen, sonst verlängert sich der Dienst automatisch um ein weiteres halbes Jahr.

Achje. Am meisten bedaure ich bei solchen Ereignissen, dass man sich in der Ablehnung solch logikfreier Brüllaffen gemein machen muss mit Leuten, die sonst durchaus nicht im Verdacht genauer Gesellschaftsanalyse stehen. Das möchte ich mir eigentlich von den Brüllaffen nicht aufdrängen lassen, und deshalb will ich auch nicht fortfahren und den Leuten von der Freien Presse auf dem Netz gar nicht erst mitteilen, dass eine nächtliche Schlägerei von Besoffenen nicht darum besser oder schlechter ist, weil sie von Deutschen oder von Ausländern angezettelt und durchgeführt wird – soviel müsste doch auch in die brunzdummen Brüllaffen hinein gehen, aber es tut es nicht, und damit fallen sie außer Betracht für jedes vernünftige Argument. Sie fallen außer Betracht für Erwägungen rund um die Entwicklung der Menschheit, die zunehmende Überwachung der Individuen, ihrer Bewegungen und auch ihrer Meinungen, sie fallen außer Betracht, wenn man sich überlegt, wie bei Gelegenheit mal eine richtige Demokratie auf der Grundlage der globalen Arbeitsteilung, einer überreichen Versorgung mit sämtlichen denkbaren Gütern und so weiter und so fort einzurichten wäre. Also: Schluss damit.

Vielleicht interessiert euch, geschätzte Hörerinnen und Hörer, doch noch zu wissen, dass die französische «Le Monde» die neue Bewegung von Sarah Wagenknecht als immigrationsfeindlich einschätzt. Diese Einschätzung wird übrigens bei einer oberflächlichen Lektüre der polierten rechten Fresse auch von dieser geteilt; Sarah Wagenknecht verfügt offensichtlich bei den vorher erwähnten braven Bürgern über eine hohe Glaubwürdigkeit. Das ist eigentlich erstaunlich, ist doch Frau Wagenknecht ein gern gesehener Gast in den offiziellen Medien, und ihre Positionen sind eindeutig linke Positionen. Aber so wabert der Weltgeist halt oft durch die Gegend, form- und richtungslos, bis er dann wieder verblasst.

Sodann kann ich einen neuen Freundschaftsbeweis von Wladimir Putin gegenüber Alexej Nawalny vermelden, diesmal 30 Tage, ich nehme an, Nawalny hat bereits eine Stamm-Zelle im entspre­chenden Knast in Moskau, und er braucht sich auch keine Tätowierungen stechen zu lassen, um im Knast an Tee und Rauchwaren zu kommen. Persönlich halte ich diesen jüngsten Freundschafts­beweis für überflüssig, steht er doch im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Erhöhung des Rentenalters in Russland, und für diese Proteste kann Alexej Nawalny nun wirklich nichts, da müsste Putin sich selber ins Gefängnis begeben. Aber die Struktur echter Männerfreundschaften ist eben undurchsichtig.

Ja, und was macht eigentlich euer Ministerpräsident, der Genosse Bodo Ramelow? Auf seiner Webseite berichtet er am 13. August von einer Reise in die Regionalpartnerschaft zwischen Thüringen und Malopolska, während der er sich über den Dächern Krakaus mit dem direkt gewählten Marschall der Woiwodschaft Malopolska, Herrn Jacek Krupa, ausgetauscht hat und sich mit ihm einig war darüber, dass es gelingen müsse, im zwanzigsten Jahr der gegenseitigen Beziehungen neue Impulse zu setzen. Schön. Und sonst so? Die Innovationswoche der Sommertour Zukunft Thüringen hat offenbar ungefähr die gleichen Ergebnisse gezeitigt, wie sie sie in allen Zukünften aller Länder und Regionen zeitigen würde, nämlich Roboter, 3-D-Drucker, Augmented Reality und so weiter; das sind halt so die Elemente, aus welchen man sich eine Wirtschaftspolitik mehr oder weniger ab Stange zusammen setzen kann, und den abschätzigen Unterton bei solchen Aussagen will ich gleich relativieren: Mir käme wohl auch nicht viel anderes in den Sinn, einmal abgesehen von jenem fantastischen Projekt des Baus einer Stadtmauer von Erfurt, weit vor den Toren der Stadt, für das ich schon seit Jahren schwärme, das aber bisher noch niemand so richtig zur Kenntnis genommen hat.

Aber zum Schluss doch noch einmal zurück zu jener Frage, die uns alle verwirrt, natürlich vor allem, seit die US-Amerikaner vor zwei Jahren dieses Ding da zum Präsidenten gewählt haben: Was macht man mit Leuten, die offensichtlich immun sind gegen jede Form eines vernünftigen Argumentes? Ich meine, ihre Skepsis gegenüber den traditionellen Medien, welche schon immer Staatsmedien waren und es auch bleiben werden, die versteht man noch einigermaßen, aber eine skeptische Haltung schließt doch immer noch die Möglichkeit ein, dass man sich auch selber irren und dass man den Gegenstand der Skepsis hinterfragen könnte. Wir beobachten aber, wie gesagt nicht nur in Chemnitz, eine neue Sorte von Menschen, die sich der Wahrnehmung von Realitäten schlicht und einfach verweigern und stattdessen ihre ureigenen, inneren Ressentiments pflegen, von denen sie ganz genau wissen, dass sie scheiße sind; vielmehr: sie hängen gerade deswegen daran, weil sie scheiße sind, wie ihnen eine auch ihnen eigene Instanz immer wieder mitteilt. Ihre Resolutheit richtet sich genau gegen diese innere Instanz. Mit der Kollektivierung der Abwehr gegen die eigene Instanz lässt sich offenbar, wo nicht gerade ein Staat, so doch mindestens schön Politik machen. Ich versteh's nicht.