Aus Neutraler Sicht KW 27/2004: Telefonumfrage

ID 7122
 
Wieder da... Albert Jörimann ("unser Mann in der Schweiz") produziert jede Woche einen ca. zehnminütigen Kommentar zu aktuellen politischen Themen. (Bitte mailt uns doch ob ihr/wann/wo den Kommentar sendet... Danke...
Audio
10:50 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.07.2004 / 18:42

Dateizugriffe:

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 02.07.2004
keine Linzenz
Skript
Telefonumfrage: Was halten Sie, zum Beispiel vom Film «Kill Bill»? «Ist das der Sexfilm über den amerikanischen Präsidenten mit Monica Lewinsky?» «Es ist ein Pop-Film, aber nicht der beste, er ist streckenweise furchtbar langweilig.» «Ich hätte Madonna den Vorzug gegeben gegenüber Monica Lewinski.» Vielen Dank. Und weiter: Was halten Sie, zum Beispiel, vom neuen Bundespräsidenten? «Naja, muss denn immer gleich einer Präsident werden?» «Der hat doch Erfahrung mit Sanierungsfällen. Als der noch beim IWF war, ist doch Argentinien pleite gegangen, das ist der richtige Mann für Deutschland.» «Also Berti Vogts hätte doch besser Horst Hrubesch aufstellen sollen.» Oder aber die politische Meinungslage: Wenn heute Wahlen wären, für wen würden Sie stimmen, für die CDU/CSU oder für die SPD bzw. die Grünen? Oder etwa für linke Splitterparteien? «Ich bin noch minderjährig!» – «Naja, macht ja nichts, sind ja auch keine Wahlen angesagt, also, für wen würden Sie stimmen, wenn Sie wahlberechtigt wären?» – «Aber ich bin doch minderjährig!» – «So mach schon, wen würdest du wählen, du Doofkopp?» – «Mama, da ist ein Pädophiler am Telefon!» – So ein Schwachsinn. Na gut, der nächste: «Wen würden Sie wählen?» «Also ich glaube, das ist ohnehin alles ein abgekartetes Spiel, die machen doch sowieso, was sie wollen, das war schon immer so.» – «Also, wen würden Sie jetzt wählen?» – «Also momentan würde ich natürlich CDU wählen, aber in zwei Jahren gibt es eine überwältigende Mehrheit für Gerhard Schröder, Gott weiss, warum.» – Ausser, die SPD sei bis dahin völlig von der politischen Landkarte hinweg gefegt worden. Mit dem Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts löst sich auch die Sozialdemokratie auf, entweder durch Selbstzerstörung wie in Deutschland oder aber durch Programmreformen, die keinen Stein der ehemaligen Sozialdemokratie stehen lassen. Da haben es die bürgerlichen Parteien besser, die hatten gar nie ein Programm, und wenn sie eines brauchten, dann entlehnten sie es einfach bei der Sozialdemokratie wie in Deutschland unter Kohl. Aber was wird nun?

Die Zukunft wird es weisen, und die Zukunft hat gestern schon begonnen. Fahren wir fort in unserer Telefonumfrage. «Was erwarten Sie von den neuen Mitgliedländern der EU?» – «Also ich denke, das Sozialversicherungssystem in Schweden ist unserem doch überlegen.» – «Nein, ich meine die neuen Mitgliedländer, Polen und so.» – «Ach so, Polen, na ja, Krakau, da kommt doch der Papst her, oder?» Vielen Dank. Versuchen wirs nochmals: «Was erwarten Sie von den neuen Mitgliedländern der EU?» – «Bis auf Königsberg ist jetzt alles mehr oder weniger wieder in Deutschland eingemeindet!» Ja, das stimmt eigentlich, so weit waren die Deutschen bisher noch nie im Osten, abgesehen von der Armee natürlich, aber was so ein militärischer Sieg wert ist, das haben wir ja nicht nur in Stalingrad gesehen, das sehen wir jetzt auch im Irak. Die Armee alleine reicht nirgends hin, auch wenn sie die allermodernsten Rüstungsgüter zur Verfügung hat – das wichtigste Rüstungsgut, nämlich der Frieden und die ihm zugeordneten Instrumente, ist nach wie vor im Besitz einiger hartnäckiger Zivilistinnen und Zivilisten. Diesbezüglich sind wir mit der EU definitiv weiter gekommen als mit der Armee. Dafür aber sind wir in der EU nicht alleine, merkt euch das! Über die deutsch/österreichischen Schultern sperbern die Engländer und die Franzosen nach Zentraleuropa, und die Skandinavier unterhalten sogar eigene und direkte Schiffs- und Flugverbindungen ins Baltikum.

Das ist ja auch richtig so. Selbstverständlich sind die Wurzeln der historischen Beziehungen nicht abgestorben, und der Wirtschaftsaustausch läuft schon seit einiger Zeit auf Hochtouren. Auch der soziale Austausch hat schon vor fünfzehn Jahren begonnen, man muss sich nur mal auf den Strassen umhören, wie da über die Polinnen und Polen geflucht wurde. Tut nichts zur Sache; jetzt, wo es immer weniger Grenzen gibt, welche Gesetzesübertretungen erst interessant machen, werden sich die Verhältnisse recht schnell anpassen, nicht gerade angleichen, aber anpassen sicher, und zwar kaum auf dem Niveau von Weissrussland, und in diesem Prozess dürfte Deutschlad tatsächlich gewaltig Schub erhalten.

A proposito Deutschland: Ein Kollege hat mir vor ein paar Monaten einen Band mit nachgelassenen Schriften von W.G. Sebald geschenkt, und darunter finde ich auch einen Versuch über die Sprachlosigkeit der deutschen Literatur angesichts der alliierten Vernichtungsangriffe auf deutsche Städte zu Ende des Zweiten Weltkrieges. Sebald stellt sich einige mehr oder weniger originelle Fragen in diesem Zusammenhang, also keineswegs etwa andere Fragen, als sie von der deutschen Schriftstellerei und vom Feuilletong in ebendieser Zeit, also vor etwa vier Jahren, aufgenommen wurden; er orakelt und bramarbasiert über die anerkannten Trantüten der Nachkriegsliteratur wie Heinrich Böll und deren kryptischen Widerstand gegen die Nazis – sie sind zwar mitgelaufen und haben die Hände zum Hitlergruss erhoben, aber insgeheim widerwillig, und so weiter und so fort – und beschwert sich recht eigentlich darüber, wie alle anderen Schriftsteller und Feuilletonisten in dieser Zeit auch, dass die Bombardierung der deutschen Städte doch eigentlich ein Kriegsverbrechen erster Güte gewesen sei. Und, eben, dass im Nachkriegsdeutschland kein Mensch die Courage aufgebracht hätte, dies auch zu schreiben.

Irgend jemand hat mal geschrieben, dass derjenige ein Reaktionär ist, der zu schnell vergisst. Insofern ist sowohl Sebald als auch die anderen, inklusive wohl Euer famoser Literaturnobelpreisträger Schnauz Grass, in diesem Punkte zum Reaktionär geworden. Erstens ist es ausgeschissene Kacke, in einem solchen Krieg, den Hitler und Goebbels zum totalen ausgerufen hatten und der weiss Gott im Osten Europas grössere verbrannte Landstriche hinterliess als die alliierten Bomben in Deutschland, die Engländer und Amerikaner im Nachhinein wegen mangelnder Manieren an den Pranger zu stellen. Das verbietet die reine Vernunft. Der Krieg war von dem Moment an eben total, als ihn die Nazis dazu erklärten, das darf man nicht einfach so weg-vergessen. Zweitens, und da kommen wir natürlich auf eine interessantere Ebene der Diskussion, gehört es bestimmt zum Verdrängungsmechanismus der Nachkriegsgeneration, nicht nur den Hitler, sondern auch die Bombeninfernos zu tabuisieren. Aber auch hier kann man nicht einfach in der Pose des Gerechten und des Siebengescheiten einen Vorwurf erheben, der sich letztlich wieder an die Siegermächte richtet, welche ein solches kollektives Wehklagen und Katzenjammern über die zertrümmerten Städte eben nicht erlaubt hätten. Es gehört vielmehr dazu, wenn man nicht einfach eine weitere Stufe des verlogenen Vergessens erklimmen will, dass solche Nachrichten nicht erst von den Siegermächten unterdrückt wurden, sondern dass es in erster Linie und zunächst in Nazideutschland selber praktisch bei Todesstrafe untersagt war, über Feindeinwirkungen im Mutterland Deutschland zu sprechen. Dafür wurden Leute sogar erschossen, und zwar eben von den Nazis, nicht nach den Nürnberger Tribunalen. All diese Ereignisse wurden nicht durch die alliierte Nachkriegspropaganda unterdrückt, sondern viel früher und strukturell in den Kommunikationsstrukturen beziehungsweise durch die Propaganda der Nationalsozialisten. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie ehemals vernünftige Menschen so was einfach vergessen können. Aber der Faktor Zeit ist offenbar nicht nur eine Medizin, die alle Wunden heilt, sondern auch ein schleichendes Gift, das den nationalistischen Krankheitserregern bzw. den Krankheitserregern des Nationalismus erlaubt, sich neuen Gegebenheiten anzupassen und sich in scheinbar unverdächtigen Köpfen festzusetzen. Also hier für ein und allemale: Pfui.

Es ist ein immer wieder zu beobachtendes Phänomen und Rätsel: Wenn sich die deutsche Intelligenz mal regt, weshalb muss sie sich ausgerechnet auf diese Art und Weise regen? Weshalb fragen sich die Leute denn nicht einfach, wieso die in Schutt und Asche zerbombten Städte mindestens im Westen des Landes nach nur fünfzehn Jahren wieder in voller Blüte standen? Fünfzehn Jahre ist eine kurze Zeit. Wenn zum Beispiel im Gazastreifen und in Cisjordanien in den letzten fünfzehn Jahren eine ähnliche Aktivität des Wiederaufbaus beziehungsweise des Aufbaus stattgefunden hätte, gäbe es vermutlich kaum mehr einen palästinensischen Terrorismus, sondern nur noch eine lautstarke palästinensische Opposition. Sie würde vermutlich gleich wäffeln über die israelische Besetzung wie Sebald und Konsorten über die Bombardierung der deutschen Städte, und es gäbe nur einen Unterschied: Die Palästinenserinnen und Palästinenser hätten Recht, im Gegensatz zu Sebald und Grass und den anderen ehemals fortschrittlichen Köpfen in diesem Euren Lande.

Naja. Abgesehen davon habe ich ja nicht den Eindruck, dass Euch solche reaktionären Geistesregungen besonders beeindrucken würden, nicht mal in Dresden. Dagegen habe ich in letzter Zeit immer öfter den Eindruck, dass Deutschland, mindestens der westliche Teil davon, sein Selbstverständnis mit dem Zusammenbruch des konstituierenden Feindbildes Ostblock doch einigermassen verloren habe. Ich habe nicht mehr den Eindruck eines zusammenhängenden Landes mit einer einheitlichen Ausrichtung, sondern ich habe den Eindruck einer mindestens vorübergehenden Fragmentierung auf einzelne Länder oder Regionen oder Städte, die untereinander nicht weiter kommunizieren; vielleicht ist die anhaltende Katastrophenpolitik der Deutschen Bahn AG ja gerade der Ausdruck dieses Mangels an innerer Kommunikation. Nun liegt es selbstverständlich an mir als neutralem Beobachter zuletzt, Euch zum Wiederaufbau auch noch eines intakten Nationalbewusstseins aufzufordern, bewahre. Ich persönlich würde mir aber gerne einen lockereren Umgang vorstellen, eigentlich nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern in erster Linie innerhalb der Europäischen Union; und wie soll denn dies werden, wenn ihr noch nicht mal im eigenen Land Euch auskennt? Das ist doch eigentlich auch eine seltsame Erscheinung, gerade im Zeitalter der optimierten Information und der maximalen Kommunikation: Herrschaften, ihr bewegt euch ja kaum mehr! Was ist denn los? So war das nämlich nicht gemeint mit dem Internet. Telefonumfrage: Wo liegt eigentlich Flensburg, oder Amrum, oder war schon mal jemand von Euch in Baden-Württemberg oder vielleicht, Höhepunkt sämtlicher Abenteuerlust, im Elsass? Hui aber auch!