"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Also aber, VW! -

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Ich bin wirklich sprachlos, allerdings nicht sprachlos genug, um nicht noch ein lautes Lamento an euch, geschätzte Hörerinnen und Hörer, abzusetzen, mit anderen Worten: Ich bin alles andere als sprachlos, ich fließe geradezu über vor Sprache, ja, nachgerade vor empörter Sprache, nein, empört ist nicht das richtige Wort, fassungslos trifft es wohl eher. Ich fließe mit dem Mittel eines reichhaltigen Wortstroms über vor fassungsloser Sprachlosigkeit.
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09:47 min, 22 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.09.2015 / 15:43

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Umwelt, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.09.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und wie so oft, ist es ein absolut bedeutungsloses Detail, welches diese Fassungslosigkeit bewirkt, und die Fassungslosigkeit hat einen ganz besonderen Charakter, weil es sich nämlich um eine Fassungslosigkeit handelt, welche sich im Rahmen einer ehernen Fassung entfesselt, nämlich meiner Vorurteile gegenüber dem kapitalistischen System im Allgemeinen und der Automobilindustrie im Speziellen.

Wenn ich also sage: Ich bin sprach- und fassungslos, dann bringe ich damit zum Ausdruck: Ich habe es ja schon immer gewusst, ich bin mit anderen Worten ganz eloquent und ganz bei mir. Das ist ein gutes Beispiel für die Struktur jeglicher Kommunikation, übrigens, aber davon abgesehen: bin ich also sprach- und fassungslos über den alldeutschen Automobilhersteller Volkswagen, der es tatsächlich fertig bringt, die Software in seinen Automobilen zu frisieren, sodass sie einen niedrigeren Schadstoffausstoß nachweist, als er tatsächlich der Fall ist, wie Wittgenstein sagen würde und damit ebenfalls vor ein echtes Problem gestellt wäre. Und nicht nur das: VW wurde dabei sogar erwischt! Es handelt sich also bei der Führungsspitze von VW nicht nur um simple Kleinganoven, sondern auch noch um unkompetente dazu. Offensichtlich ging Herr Winterkorn davon aus, dass die US-Umweltbehörde gegenüber der Automobilindustrie ein gleich großzügiges Verhalten an den Tag legen würde wie die deutsche. Diesbezüglich hat er sich nun geschnitten und ruft sofort möglichst laut im besten Kommunikationsslang: «Klar ist: Volkswagen duldet keine Regel- oder Gesetzesverstöße jedweder Art.» Ein mieser, kleiner, schmieriger Verstoß gegen irgendwelche Umweltauflagen, welche von der Automobilindustrie sowieso schon immer als das allergrößte Übel in der ganzen sozialen Marktwirtschaft empfunden wurde, wird sofort garniert mit dem groben Geschütz der allerhöchsten Prinzipien, gegen die man soeben verstoßen hat. Beziehungsweise eben: Beim Verstoß gegen dieselben man soeben erwischt wurde.

Nun können wir alle darauf Gift nehmen, dass sowohl bei VW als auch bei Audi und Porsche, bei Maserati, Ducati und Lamborghini, bei Fiat und Chrysler, bei Ford und Toyota und sogar bei der braven Volvo ganze Abteilungen daran arbeiten, wie man möglichst flexibel mit Umwelt­vor­schrif­ten zu Rande kommt, ganz abgesehen von jenen Abteilungen, welche mit ihren Kontakten in die Politik und in die zuständigen Ämter dafür sorgen, dass diese Umweltvorschriften schon gar nicht wirklich ans Lebendige gehen. Das darf man als bekannt unterstellen, genau zu diesen Zwecken wurde übrigens seinerzeit die Europäische Union gegründet, damit man sich das Lobbyieren etwas einfacher macht und nicht in zwei Dutzend Ländern gleichzeitig die Behörden schmieren muss. Das ist der Verlauf und Alltag des Kapitalismus in der Gestalt der sozialen Marktwirtschaft.

Trotzdem müsste man den Winterkorn einbuchten, vor allem wegen der absolut bekloppten Aussage, dass Volkswagen keinerlei Regel- und Gesetzesverstöße dulde just in dem Moment, in welchem besagte Regel- und Gesetzesverstöße aufgedeckt und von Volkswagen eingeräumt wurden. Der Mörder steht neben dem Opfer und brüllt: Ich toleriere keinen Raub und Totschlag! – Oder die Deutsche Bank oder die Schweizerische Bankgesellschaft wettern in allen Kanälen: Wir akzeptieren keinerlei Verstöße gegen Anlageregeln und dulden keine Devisenvergehen und andere Schiebereien! – Das ist derart behämmert, dass wohl sogar Schmerzensgeldklagen gegen VW gute Aussichten hätten.

Man muss es sich einfach nochmals vergegenwärtigen: Die Automobilindustrie macht spätestens seit zwanzig Jahren Werbung damit, wie umweltfreundlich ihre Produkte seien und dass die Abgase derart drastisch sauber seien, dass man sie mit Erfolg zur Bekämpfung des Klimaeffekts einsetzen könne. Gleichzeitig sitzen in ihren Forschungs- und Entwicklungsabteilungen hoch bezahlte Fachleute, welche sich im Auftrag der Konzernspitze darum bemühen, die Kosten der neuen Umwelttechnologien möglichst niedrig zu halten, sprich den Schadstoffausstoß möglichst hoch zu halten. Es ist wie aus einem längst untergegangen geglaubten antikapitalistischen Märchen. Auch dass die Auto-Frösche Märchen quaken wie, dass Umweltschutz und Nachhaltigkeit zu den stra­te­gi­schen Unternehmenszielen gehörten. Einen Dreck tun sie das. Zu den strategischen Unter­nehmens­zie­len gehört der Gewinn, das ist nicht weiter erstaunlich, und da die Kundinnen und Kunden der Automobil­hersteller das sind, was man allgemein als die Öffentlichkeit bezeichnet, muss man sich vor der Öffentlichkeit verneigen und muss katzbuckeln, genau gleich wie in der hohen Politik. Zu den strategischen Unternehmenszielen gehört es im Kapitalismus, den Eindruck von Umweltschutz und Nachhaltigkeit zu erzeugen. Die Sache selber ist allen kapitalistischen Firmen, von der ersten bis zur hinterletzten, schnurz-egal.

Das heißt ja noch nicht, dass sich nichts tun würde in Sachen Umweltschutz, bewahre, und man sieht deutlich, dass die Öffentlichkeit noch dann ihr Gewicht hat, wenn sie systematisch belogen wird, sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik. Ein neues Automobil kauft man vielleicht ungefähr gleich häufig, wie man wählen geht, aber man wählt dann eben doch und macht sein Kreuz hinter der und der Partei, und beim Automobilkauf entscheidet man sich dann doch für dieses oder jenes Modell, und dass sich in nächster Zeit ein paar Bestandteile der Gesamtöffentlichkeit weniger für VW und vielleicht eher für Lamborghini entscheiden werden, das ist so sicher wie der Weltuntergang in zirka fünf Milliarden Jahren. Aber eben, grundsätzlich kann man bestätigen, dass die Automobiltechnik sich immer weiter entwickelt hat und auch in Bezug auf Umweltauflagen deutliche Fortschritte gemacht hat. Auch wenn uns das von den Lügenabteilungen von Unter­neh­men wie VW und Audi immer wieder so eingehämmert wird, so stimmt es dennoch.

Ebenso stimmt, dass das Automobil nach wie vor das Mobilitätsinstrument par excellence ist. Die Menschen schwirren in ihnen durcheinander wie Elektronen in einem Metallgitter, und insofern sind die modernen Gesellschaften bestens vorbereitet auf die ankommenden Flüchtlinge. Migration ist nichts weiter als der gesteigerte Ausdruck von Mobilität. Bisher waren die Reisebewegungen im Prinzip ziemlich einseitig, die West-Touristen konnten an jeden beliebigen Ort auf der Welt, von den Regenwäldern Bormeos über die Regenwälder des Amazonas bis zu den verregneten Alpentälern, während umgekehrt den meisten Menschen in den Zielländern die Reisetätigkeit unmöglich war. Jetzt hat sich dies verändert, und da gibt es wohl kein Zurück mehr. Das Schöne an dieser Bewegung ist vorderhand nur, dass uns die Migranten aus Afrika durchaus nicht ihre traditionellen Lebensweisen nahe bringen möchten, sondern sich möglichst nahtlos in die unseren einordnen, indem sie diese als überlegen anerkennen, ganz unabhängig von Tradition und Kultur. Ich meine, die moderne Gesellschaft in der entwickelten Welt hat ja weitgehend ebenfalls radikal Schluss gemacht mit den hiesigen Traditionen und Kulturen, welche uns in ihrer Karikatur wieder entgegen treten vom Musikantenstadel her oder von sonstigen Popkultur-Veranstaltungen. Jedenfalls drängen sich die Migranten der Welt in unsere im Vergleich ungeheuren Organisa­tions­for­men, Infrastrukturen und Institutionen, weil es nicht gelungen ist, diese Organisationsformen, Infrastrukturen und Institutionen in ihren Herkunftsländern selbständig einzurichten und aufzu­bauen. Und warum dies so ist, zeigt uns mindestens für Afrika ein kurzer Blick in die Geschichte der Dekolonialisierung.

Unabhängig davon stellen sich im Moment einige rein praktische Fragen, zum Beispiel, wie man die Herbeimigrierten jetzt richtig hereinnimmt in die bestehenden Strukturen. Eine andere, nicht nur praktische, sondern auch theoretische Debatte gibt es darüber, wie viele man denn herein lassen solle. Aus neutraler Sicht ist die Sache klar: Ich habe keine Ahnung. Was die Bevölkerungsdichte und soziale und wirtschaftliche Parameter aus den Bereichen Konsum und Beschäftigung angeht, so brauchen wir uns keine Sorgen zu machen; es gibt ganze Staaten, die nur aus Städten bestehen und die trotzdem nicht untergehen. Rein technisch gesehen ist das kein Problem. Aber die Turbulenzen, die mit der Integration oder auch mit der Nichtintegration verbunden sind, die sind eines. Ein Element dieser Turbulenzen ist jenes, dass die Migrationsfrage einen tiefen Einschnitt bedeutet in unsere Tradition des Verteilkampfes im Rahmen des Sozialstaates. Der Einschnitt betrifft dabei nicht so sehr die tatsächlich zur Verfügung stehenden Summen; man muss nicht davon ausgehen, dass die aktuellen Hartz-IV-Bezügerinnen und –Bezüger tatsächlich weniger Knete erhalten als bisher. Es geht vielmehr darum, dass die schon fast rituellen Beschwörungen von Umverteilung, von sozialer Gerechtigkeit, all die vielen durchaus begründeten Vorwürfe und Klagen von Seiten der Benachteiligten ebenso wie das Gejammer von Seiten jener, welche diese Soziallasten zu finanzieren meinen, all diese Sozialtänze sind mit einem Schlag außer Kraft gesetzt. Und wir werden zunehmend feststellen, dass das große Gesellschaftsspiel unendlich viel mehr Raum anbietet, als wir es mit unserem Gezerre je gedacht haben. Dies zu erkennen und dementsprechend zu reagieren und zu agieren, die Masse der Ankömmlinge nutzen zur Ausweitung der gesellschaftlichen Freiheiten anstatt zu ihrer Einschränkung, das wird die echte Kunst sein der kommenden Monate und Jahre.

Aber grundsätzlich, wirklich: Ich habe keine Ahnung. Und das ist für mich ebenso neu wie spannend. Ich glaube wirklich, wir haben Grund zu Optimismus, sobald einmal die Ängste abgebaut sind und die Rechtsnationalisten in ihre Schranken gewiesen sind.