"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ausbruch an Empathie -

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Am Sonntag haben wir einen Ausflug gemacht in jene Gegend, wo Christoph Blocher, der Milliardär mit Bauerngehabe und Anführer der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei, jeweils am liebsten auftritt, ein kleines Seitental in den Alpen, wo das Gras grüner, der Himmel blauer und die Schweizer Flagge patriotischer ist als anderswo, mit anderen Worten: Es nieselte aus tief hängenden Wolken, und von Blocher keine Spur.
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10:11 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 08.09.2015 / 14:22

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Klassifizierung

tipo: Kommentar
idioma: deutsch
áreas de redacción: Politik/Info, Kultur, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

autoras o autores: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
fecha de producción: 08.09.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Stattdessen nahm im Restaurant am Tisch neben uns ein älteres Paar das Mittagessen ein, von dem der Herr durch einen Schottenrock auffiel, wofür er von anderen älteren Herren im Vorbeigehen viel Lob erhielt, während seine Begleiterin andauernd von der geistigen Welt sprach, am besten hörbar in jenem Auszug aus ihrem Terminkalender: «Morgen Mittag kommt meine spirituelle Lehrerin, damit ich ihr die Haare schneide.» – Nun mal unter uns: Noch gesetzt der Fall, ihr hättet einen spirituellen Lehrer oder eine spirituelle Lehrerin, was ich ja nicht hoffe, aber trotzdem, würdet ihr dieser Person die Haare schneiden wollen oder es tatsächlich tun? – Doch wohl nicht, nehme ich mal an, denn so etwas käme einer Profanierung der spirituellen Ebene gleich, und aus diesem Grund ergoss sich unsere volle, allerdings unsichtbare Verachtung über diese Person, welche offensichtlich ihre eigene Spiritualität ungefähr gleich abhandelt wie einen Maikäferbefall in Nachbars Garten. So haben wir nicht gewettet, auf dieser Grundlage wird das nichts mit der alljährlichen Reise in den Ashram in Pondycherry, das ist schlicht und einfach Partygeplauder von Menschen, die sich in der Neuen Revue oder in der Bunten zu oft in die Horoskopabteilung verirrt haben.

Echte Spiritualität ist etwas anderes, und dies belegt eindeutig jene Meldung, die mich dann am Montag erreichte: Bei einem Kongress von Heilpraktikern in Niedersachsen musste die Polizei ausrücken, weil die Jungs zu viele Drogen geschluckt hatten und desorientiert in der Gegend herum torkelten und auf den Wiesen unter den Bäumen lagen. Wer einen derartigen Bewusstseins­zustand erklommen hat, braucht keinen Mann mit Kilt mehr, und vom Haareschneiden ist sowieso dringend abzuraten, ich würde noch nicht mal zum Rasiermesser greifen und glaube, dass in diesem Zustand auch eine mehrgliedriger und siebenklingiger Rasurkopf von Gillette zum lebensgefährlichen Instrument würde.

Habe ich Gillette gesagt? Da muss ich aus wettbewerbstechnischen Gründen natürlich nachziehen und sagen: auch eine mehrgliedrige und siebenfache Rasierklinge vom Konkurrenten Wilkison wäre in einem vom übermäßigen Genuss der Droge Aquarust ausgelösten Rausch zweifelsfrei ebenso lebensgefährlich wie die entsprechenden, fein geschliffenen Lamellen des Konkurrenten Gillette.

Immerhin, so viel kann ich sagen: Soweit echte Spiritualität nichts anderes bedeutet als die Erweiterung des durch unzählige traditionelle, kulturelle, gesellschaftliche und individuelle Schranken eingesperrten Bewusstseins durch eine möglichst gute Droge, kann ich nicht im Ernst ein Gegner von Spiritualität sein, eben durchaus im Gegensatz zu der Frau im Blocher-Land, welche die Spiritualität als Small-Talk-Gegenstand verwendet und dabei von einer Bewusstseins­erweiterung radikal keine Ahnung hat beziehungsweise ungefähr gleich viel wie ihr schotten­be­rock­ter Begleiter und womöglich Ehemann von den Schotten.

In die spirituelle Heimat von Christoph Blocher haben wir uns mehr oder weniger aus Zufall verfügt, aber irgendwie war es ein schöner Zufall, weil der Ausflug nämlich mitten in jene Zeit fiel oder vielleicht geradezu auf den Höhepunkt jener Zeit, als in Deutschland die Profugophilie ausgebrochen ist, und zwar derart lautstark, dass unseren rechtsnationalen Geiferern, die sich in letzter Zeit mit allerlei Krempel wie Masseneinwanderung, Kündigung internationaler Völkerrechtsverträge und ähnliche Dinge hervorgetan hatten, komplett verstummt sind. Die Jungs stehen unter Schock, und das ist insofern etwas beunruhigend, ich meine jetzt für sie, nicht für mich oder für uns, als in etwa einem Monat das Schweizer Parlament neu gewählt wird. Auf eine nicht besonders einfach zu erklärende Art und Weise ist den nationalistischen Idioten, welche mit dem Migrations- und Flüchtlingsthema mit einigem Erfolg Stimmung gemacht und Stimmen geholt haben, der Saft ausgegangen just in jenem Moment, als sich die Flüchtlingsfrage so massiv und konkret stellte, man hat fast den Eindruck, es sei dies zum ersten Male richtig der Fall geworden. In diesem Moment reagiert die Öffentlichkeit zum allgemeinen Erstaunen durchaus nicht so, wie man es sich wegen des anhaltenden fremdenfeindlichen Sperrfeuers erwartet hätte, nämlich durch den tatsächlichen Ausdruck der beabsichtigten Verhärtung, sondern mit dem exakten Gegenteil: mit der völligen Befreiung von all dem verrotteten ideologischen Quatsch und mit einem Ausbruch eines der grundlegenden Gefühle der Menschen, nämlich der Menschlichkeit. Und zur allgemeinen Überraschung kommt noch dazu, dass ausgerechnet der Boulevard, der nicht nur sein Süppchen, sondern Amuse-Gueules, Vorspeisen, Salate, Haupt- und Nach- und Süßspeisen bisher immer mit den fremdenfeindlichen Strömungen des öffentlichen Bewusstseins gekocht hat, dass ausgerechnet der Boulevard voll mitzieht, eben: für einmal nicht bei der Entmenschung des Menschen, sondern bei der Ausformung einer absolut humanen Einstellung gegenüber dem Migrationsdruck, der aus dem riesigen Leid, vor allem in Syrien erwachsen ist.

Ich muss zugeben, dass ich nicht nur sehr positiv überrascht, sondern tatsächlich erschüttert bin über diese unerwartete Reaktion der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung, darüber, dass die Politik praktisch von einem Tag auf den anderen von Mitgefühl bestimmt wird anstatt von der Angst vor und dem Kalkül mit dem rechtsextremen Mob. Ich bin umso überraschter, als es in den letzten Jahren immer schwieriger wurde, eine fortschrittliche Politik auszumachen, welche zum einen dem rechten Nationalismus entgegen gehalten werden könnte und zum anderen ganz einfach Wege in eine freiere, offene und gerechte Zukunft aufzeigt. An die Stelle einer solchen fort­schritt­li­chen Politik ist jetzt mit einem Paukenschlag ganz einfach die Menschlichkeit getreten – und dafür, dass mich so etwas überrascht, muss ich mich eigentlich ordentlich schämen, denn ich behaupte ja selber immer wieder, dass das zivilisierte Individuum im Kern schwer in der Ordnung ist, habe in letzter Zeit aber auch meine Zweifel daran gehabt.

Nun, ich schäme mich gerne und lautstark, und ich weiß natürlich auch, dass dieser Ausbruch an kollektiver Empathie nicht immer anhalten wird und dass er von Faktoren und Komponenten mit gespiesen wird, welche vielleicht nicht so ganz lupenrein sind, wie sie jetzt in den Medien herüber kommen – aber insgesamt wäre ich ein Volltrottel, wenn ich diesen Moment nicht genießen und loben würde, in dem vor allem die deutsche Bevölkerung der ganzen Welt zeigt, dass sie sich mit aller Entschiedenheit von den Braunaffen im Elbtal distanziert.

Der Ausbruch an Solidarität stellt mindestens für einen kleinen Zeitraum die variable Geometrie auch in anderen Bereichen der Politik auf den Kopf. Wenn man schon gegenüber den Flüchtlingen großherzig ist, kann man das sich selber gegenüber doch auch sein. Für einen Augenblick mindestens ist das große Gerangel um einen möglichst großen Einfluss für die jeweiligen Interessensgruppen ausgesetzt, das kollektive Bewusstsein beschäftigt sich wieder mit den grundlegenden Fragen. Und es rückt wieder einmal in den Vordergrund, dass es in unseren Gesellschaften eigentlich allen Menschen unwiderruflich gut geht, nämlich materiell. Für den Rest, also für gute Infrastrukturen, für Bildung und Chancengleichheit, für weiter führende Perspektiven und so weiter, müssen wir selber sorgen, das steht fest, aber es ist einfach angenehm, wenn man zwischendurch auch mal einräumen kann, dass die Welt in unseren Gesellschaften durchaus nicht verrottet und dem Untergang geweiht ist, ganz im Gegenteil. Und wenn man für diese Erkenntnis halt den Schock eines plötzlichen Zuzugs von Tausenden von Flüchtlingen braucht, dann hat sich dieser Zuzug erst recht gelohnt.

Dies ändert nichts an den Grundsätzen, die ich hier schon früher diskutiert habe und die auch in der politischen Diskussion immer wieder auftauchen, namentlich die offensichtliche Tatsache, dass weder Deutschland noch die Schweiz noch Europa sämtliche armen Menschen aus der ganzen Welt aufnehmen können, egal, ob unter dem Titel von Kriegs- oder von Wirtschaftsflüchtlingen; es gibt gewisse Grenzen, die man nicht überschreiten kann. Aber diese Grenzen sind im Moment noch längstens nicht erreicht, und gerade in dieser Beziehung kommt der Ausbruch an Empathie und Menschlichkeit wirklich in einem guten Zeitpunkt. Was die Kriegsflüchtlinge angeht sodann, muss man sich bemühen, den Krieg zu beenden, und dafür wäre es von sehr nützlicher Nützlichkeit bei gleichzeitig dringlicher Dringlichkeit, dass die Herren Regierungschefs in den Vereinigten Staaten und in der Türkei endlich mal einen echten Dialog mit dem Herrn Regierungschef Bashir Al Assad veranstalten würden, meinetwegen gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee oder mit wem sonst noch. Das würde die Flüchtlingsfrage viel rascher lösen, mindestens in Bezug eben auf Syrien, als die Massenemigration nach Europa. Aber da haben die Herren Regierungschefs in den Vereinigten Staaten und in der Türkei gar keine Freude daran, an solchen Verhandlungen, aus Sicht von Kamerad Erdogan wegen der Kurden, aus Sicht von Kamerad Osama wegen der Russen, da nehmen die lieber in Kauf, dass für ein paar Jahre halt ein paar Millionen SyrerInnen auf der halben Welt herum irren.

Was die anderen Flüchtlinge angeht, so hat die Ursachenbekämpfung vor Ort stattzufinden, also in der Regel auf dem afrikanischen Kontinent, und nicht in Europa, wo die ökonomische Logik die Menschen hin treibt. Aber wir wissen, dass es dafür lange Zeit braucht. In der Zwischenzeit kann und muss man sich um Integrationslösungen bemühen in Europa; vor allem aber sollten in Afrika oder anderswo Siedlungsgebiete angelegt werden, in welchen sich die Europäer verpflichten, ähnliche Strukturen anzubieten wie in Europa. Ich weiß, dass dies erneut ein Bekenntnis zu einer Stadt vom Reißbrett ist, wie man dies vor fünfzig Jahren aus städtebaulichen Gründen versucht hat, ohne weitere Erfolge. Aber jetzt sind die Motive anders, die technischen und sozialen Gegebenheiten haben sich verändert, also sollte man es auf dieser Grundlage einfach mal versuchen. Wenn man ausreichend Mittel bereit stellt für einen Staat, der so etwas mal versuchen würde, sagen wir mal Marokko, um in Afrika zu bleiben, sehe ich keinen Grund, weshalb so etwas nicht innerhalb von recht kurzer Zeit aus dem Sand gestampft werden könnte.