"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Griechenland -

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Manchmal hält das Leben echte Unterhaltungssendungen bereit, und der Fall Griechenland zählt ohne Zweifel zu dieser Kategorie, und dass die Grundlage des Vergnügens für uns in unseren Armani-Sesseln halt das echte Elend der griechischen Bevölkerung ist, verleiht dem ganzen Spaß eine Dimension, die schlicht nicht zu überbieten ist. Zudem ist es ja nicht einfach Fun and Games, sondern hier geht es um Grundsatzfragen der modernen staatlichen Organisation und dann sogar noch um die Entstehung Europas. Wie werden wohl die HistorikerInnen in 50 oder 100 Jahren über diese Phase urteilen?
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09:32 min, 22 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.06.2015 / 11:00

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Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 30.06.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wenn ich zurückblicke, rekapituliere ich die letzten Jahrzehnte der griechischen Entwicklung mit der gebührenden Unschärfe wie folgt: Am Anfang stand die rasche Ausbildung von zwei Clan-, Kasten- oder Parteiorganisationen nach dem Ende der Militärdiktatur, welche sich in Anlehnung an ihre Verbündeten in Kerneuropa konservativ und sozialistisch nannten. Sie wechselten sich in be­stimm­ten Rhythmen an der Macht ab und waren in erster Linie weder konservativ noch sozia­lis­tisch, sondern sie betrieben den Staatsapparat als einen Organismus zur Schaffung und Verteilung von Privilegien, auf den unteren Stufen in der Form von Stellen, welche an die Klienten vergeben wurden, und je weiter man hinauf kam, desto mehr ging es um Aufträge, Projekte, Budgetposten, welche abwechselnd zur Herstellung von Extraprofiten auf der privaten Seite, von Schmiergeld auf der staatlichen Seite genutzt wurden. Neuzeitliche Organisationsprinzipien oder neue Techniken standen kaum einmal zur Debatte. Die Modernisierung der griechischen Wirtschaft ebenso wenig. Kerneuropa kümmerte sich weiter nicht darum, weil man mit den Griechen gute Geschäfte machen konnte, wenn man sie nur ebenso gut schmierte, und zum anderen, weil Griechenland sozusagen den inneren Schutzwall Europas darstellte gegenüber dem Nahen Osten. Den äußeren Schutzwall bildete der Nato-Partner Türkei, welcher man aber lange Zeit nicht so richtig über den Weg traute, da auch hier eher die Korruption als der Drang nach der Verbreitung moderner Errungenschaften den Verlauf der Dinge bestimmte. Zudem hatte und hat man auch heute noch gewisse Vorurteile gegen die Türkei wegen der osmanischen Vergangenheit zum einen, zum anderen, weil in der Türkei eine viel stärkere Dynamik im Gange ist, namentlich durch den gewaltigen Bevölkerungs­zu­strom nach Istanbul, während Griechenland durch das Klientensystem auch diesbezüglich ziemlich stabil bzw. lahm gehalten wurde.

Dann kam das Kapitel Einheitswährung. Alle Verantwortlichen auf allen Stufen wussten, dass Griechenland die Kriterien zum Eintritt in den Euro nicht erfüllte, aber es war einerseits schön und anderseits bequem, die Griechen dabei zu haben, da entfielen die lästigen Wechselkursfragen bei der Bestechung. Die Aufträge flossen, das Geld floss, die Statistiken zeigten ein wunderbares Bild, alles war schön. Bloß machte sich einerseits die Türkei unter der angeblich islamistischen AKP und unter dem neuen Premier Erdogan auf einen entschlossenen Modernisierungspfad, was die regionalpolitische Bedeutung Griechenlands innerhalb von kurzer Zeit dramatisch herabsetzte, und zum zweiten setzte die globale Finanzkrise neben verschiedenen anderen Hauptwirkungen auch dem Zauber mit den Staatsanleihen ein Ende.

Seither verfolgen wir das Schuldendrama, bei welchem die Europäerinnen und die internationalen Institutionen versuchen, den absolut unumgänglichen Schuldenschnitt hinauszuzögern, um den Griechinnen und ihrem Staatswesen mindestens die minimalen Reformen abzupressen, ich verweise an dieser Stelle immer und gerne wieder auf ein offizielles Grundbuch, das man in Griechenland bei Gelegenheit einmal einführen könnte. – Was heißt da könnte: Wenn es den Jungs und Mädels ernst wäre mit den ganzen Reformen, dann hätte man in den vergangenen 6 Jahren ein solches Grundbuch mit links eingeführt und dazu sogar noch ein paar Stellen geschaffen, welche von Europa und von IWF und Weltbank locker finanziert worden wären. Aber es scheint ja schon fast genetische Dimensionen angenommen zu haben, dass es die Griechinnen einfach ablehnen, mit Geld etwas Vernünftiges und womöglich sogar Produktives anzustellen. Das scheint gegen die nationale Ehre zu verstoßen.

Jedenfalls drehen und winden sich die Griechinnen seit dem Beginn der aufgezwungenen Sparpolitik und versuchen, sich nach Möglichkeit weiterhin gegen so etwas wie Skalenerträge oder funktionierende Infrastrukturen zur Wehr zu setzen, wobei offenbar die Regierung Samaras tatsächlich einen Teil der grotesken Zahl der Staatsangestellten abgebaut hat. Als diese ersten Erfolge dann tatsächlich manifest wurden, da entschlossen sich die Griechinnen, die Regierung abzusetzen und stattdessen die angeblich extreme Linke zu wählen, welche den Erlass der Staatsschulden versprach und zudem das Bezahlen von Steuern an die Troika mehr oder weniger als Unterdrückungsakt darstellte. Und seither haben wir weder von Tsipras noch von der Syriza-Partei etwas gehört, was entfernt mit der dringend nötigen Behebung der Mängel, eben vor allem beim Staatsapparat und bei der griechischen Wirtschaft zu tun hätte. Stattdessen scheint die Bereitschaft und Praxis des Steuerzahlens von null auf unter null gesunken zu sein, was zwar die logische Konsequenz der Syriza-Ankündigungen exprimiert, aber noch nicht mal für einen vormodernen Staat lustig ist. Die Troika ihrerseits beziehungsweise die europäischen Finanzminister haben ihr monatelanges Kasperletheater jetzt Gottseidank zu Ende gebracht; in den letzten Wochen hatte man den Eindruck, der Grieche sei jetzt eingeknickt, und die Finanzminister und Staatschefs verströmten Unmengen des Parfums der Zufriedenheit, dass der dumme Junge jetzt unter dem Druck der weisen Onkelz doch zur Einsicht gelangt sei und dass man jetzt fortfahren könne wie gehabt.

Unter uns gesagt: Das wäre mit Sicherheit die einfachste Lösung gewesen. Fortfahren mit verschiedenen Zugeständnissen, das Gesicht halt ein bisschen verlieren, aber nicht die ganze Macht, das Zinsen- und Schuldengewurschtel in einer undurchsichtigen Getriebeschachtel weiter drehen lassen und ansonsten die Tourismussaison durchführen wie gehabt, da wären nicht mal die echten Strukturprobleme aufs Tapet gekommen. Und weiter unter uns gesagt: Weshalb hat diese angeblich linksextreme Regierung niemals, auch nicht ein einziges Mal ein Programm zur Wiederherstellung der staatlichen Souveränität vorgestellt, meinetwegen inklusive Nationalisierung der wichtigen Betriebe und Wirtschaftszweige? Warum wurde nicht ein einziges Mal eine Grundsatzdebatte geführt? – Das wäre ja mindestens spannend gewesen, und zwar weit über Griechenland hinaus, denn auf dem Markt der Meinungen existiert heute Konsens, dass es keine Alternative gibt zum gesellschaftlich-wirtschaftlichen Status quo, wenn man mal Dinge wie dem extremen Islam absieht, welcher allerdings auf dem Markt der Meinungen auch nicht mit einem besonders großen Angebot auftritt. Syriza hätte hier einen riesigen Anstoß geben können, in der Theorie und in anderer Form auch in der Praxis. Den Euro beibehalten, meinetwegen, aber selbstverständlich die Bedienung der Schulden einstellen, parallel dazu die hier schon mehrfach erwähnte Rote Drachme aufschalten für den Inland-Zahlungsverkehr und dann mit Volldampf an die Modernisierung der Infrastrukturen, 60 Prozent der Staatsangestellten feuern, zum Beispiel, all dies selbstverständlich auf der Grundlage eines anständigen bedingungslosen Grundeinkommens. Wieso hat die griechische Regierung, wieso hat diese vermeintlich linke Partei nicht einmal die einzige Chance genutzt, die ihr verblieben ist, nämlich jene der Argumente, der Ideologie, der Grundsatzfragen?

Die Antwort ist einfach: Syriza ist eben gar keine moderne linke Partei, sondern bloß ein, durch die bekannten antikapitalistischen und antiimperialen Schlagworte zusammen gehaltener Haufen von Menschen mit der genau gleichen Kompetenzqualität wie alle Vorgängerregierungen.

Aber dies mal beiseite, ebenso wie die Frage, wieso sich die Syriza angesichts eines derartigen Mangels an Programm- und überhaupt Ideen überhaupt hat an die Macht wählen lassen: Im Moment fühlt man sich wie in jedem guten Theater sowieso verbunden mit den Opfern, also mit den Griechinnen und Griechen, und mindestens ich wäre vollständig reif für den, ohnehin uner­läss­lichen Schuldenschnitt, welcher dem griechischen Staat und der griechischen Gesellschaft etwas Luft und Perspektiven verschaffen würde. Nicht im gleichen Umfang reif dafür sind aber offen­sichtlich einige europäische Partnerländer, vor allem im Osten, welche den ganzen Austeritäts­diskurs viel ernster genommen haben; sie sehen in einem solchen Schuldenschnitt aus verständ­li­chen Gründen einen Schlag ins Gesicht, eine Entwertung ihrer eigenen Anstrengungen. Trotzdem wird man gerade diesen Ländern klar machen müssen, dass der Schuldenschnitt oder -erlass eine absolute Notwendigkeit ist, weil Griechenland ohne solche Maßnahmen überhaupt nie mehr auf die Füße kommen wird. Ganz abgesehen davon, dass es unklug ist, ein Land oder eine Nation derart durch den Dreck zu ziehen, wie dies gegenwärtig getan wird, und zwar seit Antritt der Regierung Tsipras. Ich kann mich nicht mal selber von dieser Hau-auf-Griechenland-Party ausnehmen, aber ich nenne immerhin ein paar andere Gründe und habe ein paar konstruktive Vorschläge jenseits der primitiven Reflexe der Akteure auf der europäischen Schaubühne.

Was die Abstimmung angeht, die am nächsten Wochenende organisiert wird, so finde ich die eigentlich eine gute Sache, man hätte damit viel früher vors Volk treten können, ja sogar müssen, und natürlich mit klareren Positionen und umfangreichen Informationen. So, wie sie jetzt durchgeführt wird, scheint sie nur zu bestätigen, dass die Regierung Tsipras von Anfang an keinen blassen Schimmer davon hatte, wie sie ihre Wahlversprechen, vor allem natürlich den Schulden­schnitt, durchsetzen könnte, ohne das Minimum an Staatlichkeit, das Griechenland verblieben ist, aufs Spiel zu setzen.

Aber das nützt alles nix, und somit können wir uns im Sessel fläzen und dumme Sprüche reißen.

Dann kam das Kapitel Einheitswährung. Alle Verantwortlichen auf allen Stufen wussten, dass Griechenland die Kriterien zum Eintritt in den Euro nicht erfüllte, aber es war einerseits schön und anderseits bequem, die Griechen dabei zu haben, da entfielen die lästigen Wechselkursfragen bei der Bestechung. Die Aufträge flossen, das Geld floss, die Statistiken zeigten ein wunderbares Bild, alles war schön. Bloß machte sich einerseits die Türkei unter der angeblich islamistischen AKP und unter dem neuen Premier Erdogan auf einen entschlossenen Modernisierungspfad, was die regionalpolitische Bedeutung Griechenlands innerhalb von kurzer Zeit dramatisch herabsetzte, und zum zweiten setzte die globale Finanzkrise neben verschiedenen anderen Hauptwirkungen auch dem Zauber mit den Staatsanleihen ein Ende.

Seither verfolgen wir das Schuldendrama, bei welchem die Europäerinnen und die internationalen Institutionen versuchen, den absolut unumgänglichen Schuldenschnitt hinauszuzögern, um den Griechinnen und ihrem Staatswesen mindestens die minimalen Reformen abzupressen, ich verweise an dieser Stelle immer und gerne wieder auf ein offizielles Grundbuch, das man in Griechenland bei Gelegenheit einmal einführen könnte. – Was heißt da könnte: Wenn es den Jungs und Mädels ernst wäre mit den ganzen Reformen, dann hätte man in den vergangenen 6 Jahren ein solches Grundbuch mit links eingeführt und dazu sogar noch ein paar Stellen geschaffen, welche von Europa und von IWF und Weltbank locker finanziert worden wären. Aber es scheint ja schon fast genetische Dimensionen angenommen zu haben, dass es die Griechinnen einfach ablehnen, mit Geld etwas Vernünftiges und womöglich sogar Produktives anzustellen. Das scheint gegen die nationale Ehre zu verstoßen.